Der Schnee von heute

Albert Camus / Boris Sawinkow: Die Gerechten / Das fahle Pferd, bat-Studiotheater, Berlin (Regie: Marcel Kohler)

Von Sascha Krieger

Ein leeres Bühnenviereck, darum verteilt das Publikum. Es wird über Anarchismus und den Umsturz eines verfaulten Systemsgeredet, über Russland und eine strahlende Zukunft für das ganze Volk. Und darüber, das Gewalt auf dem Weg dorthin unerlässlich sein. Kommt bekannt vor? Richtig, Daniela Löffner hat mit Väter und Söhne am Deutschen Theater mit diesen Zutaten einen Theaterabend gebastelt, der gerade beim Theatertreffen gastieren durfte. Einen der beiden Anarchisten des Stücks spielte Marcel Kohler, der für die Rolle auch den Alfred-Kerr-Preis erhielt. Jetzt hat Kohler die sonnigen Gefilde Turgenjews verlassen und taucht tief ein in den Untergrund, dort wo aus der hehren Ideologie der Idealisten die schmutzige Realität des Terrors wird, wo die Worte übersetzt werden in blutige Taten. Dazu kehrt er zurück an die Ernst-Busch-Hochschule, an der er im vergangenen Jahr seinen Abschluss machte und während des Studium auch schon inszeniert hat, Heiner Müllers Philoktet zum Beispiel. Stadt weiter russischer Landluft nun also die klaustrophobische Enge, die stickige Dunkelheit freiweilliger und unfreiwilliger Verliese, die menschliche Düsternis von Das fahle Pferd, dem Tagebuchroman des russischen Sozialrevolutionärs und Attentäters Boris Sawinkow und von Albert Camus‘ auf dem Buch basierendem Stück Die Gerechten.

Bild: Jan Hellerung
Bild: Jan Hellerung

Leer ist die Bühne, nur in der Mitte ist ein Fahnenhalter angebracht, in dem eine riesige Fahne steckt. Samuel Simon schwingt sie entschlossen und aggressiv, während er dazu Tagebucheinträge Sawinkows skandiert, die von der Notwendigkeit des Tötens sprechen. Doch die Fahne ist weiß, das Ziel ist ihr bereits entschwunden. Politische Gewalt als (Selbst-)Aufgabe? Dabei sind sie sich einig, die blassen Gestalten, die hier die Revolution planen. Gewalt, sage sie sich und einander, ist nötig. Doch wie weit darf oder muss sie gehen? Gibt es Grenzen? Und was ist mit dem Volk, das befreit werden sollt? Muss man um seine Unterstützung werben und unterlassen, was es abschrecken könnte? oder darf auch daraus keine Rücksicht genommen werden, muss sich das Volk am Ende zu seinem Glück zwingen lassen. Und dann ist da noch die Frage nach der Zeit: Ist das Ziel, in einer ferne, vagen Zukunft ein neues Paradies zu errichten, oder geht es nicht eher darum, dem jetzigen Menschen zu helfen, sein Los zu verbessern, auch wenn er es sich vielleicht noch gar nicht verdient hat?

Samuel Simon als Stepan und Joshua Jaco Seelenbinder stehen sich in diesem Streit gegenüber, die anderen suchen dazwischen ihre Position. Simons unerbittlicher Fanatiker und Seelenbinders nüchtern vergrübelter, von stillen Zweifeln heimgesuchter Iwan bilden die Pole – hier die Revolution als Selbstzweck, dort als rein dienendes Mittel zu einem höheren Ziel. Ruhig und intensiv ist die Auseinandersetzung, ein stiller Kampf der Argumente. Kohler setzt auf realistisches Spiel und auf Pausen, in denen die Worte, die Ideen, das Ungeheuerliche dessen, was hier verhandelt wird – ist es in Ordnung, auch Kinder zu töten oder sollte man sich auf den Vertreter der Macht beschränken. Je weiter sich die Figuren hinein wagen ins Dickicht der Abgründe sich absolut setzender Ideologien, desto unerträglicher, angespannter wird die Atmosphäre. Das liegt vor allem am Ensemble, in dem Seelenbinder, der für die rolle mit dem diesjährigen O. E. Hasse Preis ausgezeichnet wird, kaum herausragt. Einen starken Eindruck hinterlassen auch Luise Pöls, die als Dora erst und leidenschaftlich für die Liebe als Grundprinzip plädiert oder Lukas Gabriel, dessen dünner Körper das Ringen Alexejs mit dem Zweifel auf ungemein physische Weise ausficht. Auch Alexander Wanats entschlossener und zugleich unsicherer Pragmatiker Boris und Roman Schomburg, der im zweiten Teil den Polizisten Skuratow als sanften Praktiker der Macht gibt, sind zu nennen.

Am Ende steht ein Kompromiss: politischer Mord ja, aber keine Kinder als „Kollateralschäden“. Keine Antwort, sondern nur eine Ausflucht. Und so gefriert Seelenbinders Attentäter im zweiten Teil zum kalten mechanischen Propagandisten ideologischer Phrasen, gräbt er sich ein in einem Glaubensbekenntnis, das längst Schutzpanzer ist, sucht er die Hinrichtung, um sich nicht dem eigenen Tun stellen zu müssen. Das intensive Kammerspiel wird zum multiperspektivischen Geistertanz. Der Mitgefangene, dem sich Iwan als Retter präsentiert, ist ein tumbes Körperknäuel, das mit den hochtrabenden Ausflüchten des Mörders wenig anfangen kann. Die Großfürstin, Witwe des Opfers, erscheint als verhüllte Mahnung seiner Schuld – wie auch der Mithäftling, der sich als Henker entpuppt, im angeketteten Geist des Täters multipliziert. Auch die Mitverschwörer*innen sind nurmehr sich windende Untote, die wie tot dahin gestreckt sind und nur noch die alten Phrasen ausspucken. Am Ende bleibt ein Berg sich selbst entmenschlicht habender Körper.

Der Tod hat gesiegt, aber nicht auf ganzer Linie. Da können Sawinkows Hass-Predigten noch so sehr mit der archaischen Wucht eines antiken Chors daherkommen – auch der Hass-Prophet kann sich dem menschlichen nicht ganz entziehen. Und so beginnt sich Zweifel einzuschleichen (Sawinkos selbst wurde später zu einem ausgesprochenen Kritiker der Sowjetmacht und von dieser ermordet), wie sich überall der Kuntsschnee festsetzt, der in der Pause, die keine ist, vom Himmel fällt. Da tollen die sechs Revolutionäre wie Kinder über die Bühne, albern herum, bekämpfen sich in Schneeballschlachten. Da dringt das Leben ein in den selbstgewählten Kerker und sind alle hehren Motive, aller Ernst vergessen und nichts mehr wert. Der Schnee bleibt, auch wenn die Parolen wiederkehren – jetzt jedoch als Gespenster, fahle Schatten ihrer selbst. Christliche Choräle erklingen, falsche Hoffnungsversprechen und doch nisten auch sie sich ein – in den Figuren, im Publikum. Sie ist nicht tot zu kriegen, diese Hoffnung, die am Leben als etwas Bewahrenswertem festhält. Etwas das jetzt ist und nicht erst morgen. Wie albern. Wie wahr.

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