Wem das Leben die Hand reicht

Brian Friel nach dem Roman von Iwan Turgenjew: Väter und Söhne, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Daniela Löffner)

Von Sascha Krieger

Am Ende, nach ziemlich exakt vier Sunden, reibt sich der hartgesottene Rezensent, der alles schon gesehen zu haben glaubt, verwundert die Augen. Vielleicht auch, um zu kaschieren, dass es dort ein wenig feucht geworden ist, vor allem aber, weil es nicht ganz einfach ist zu verstehen, was diese 240 Minuten mit dem Zuschauer angestellt haben. Daniela Löffner inszeniert die Bearbeitung eines Romans des bedeutenden russischen Romanciers Iwan Turgenjew durch den kürzlich verstorbenen großen irischen Dramatiker Brian Friel und sie bringt einen Abend auf die Holzbretter, welche die Bühne der Kammerspiele bedecken, wie es ihn eigentlich gar nicht mehr gibt. Gut dreieinhalb Stunden lang, die Pause abgezogen, wird einfach nur gespielt, es wird gestritten und gesehnt und geliebt und gerungen, viel getrunken und gegessen auch, gesungen sowieso, wir befinden uns schließlich in einem russischen Stoff. Ein paar Stühle, Esstische verschiedener Größe, ein Plattenspieler, Zubehör wie Raclette und Waffeleisen, später ein paar lange Metallstangen mit daran befestigten Ballons – mehr ist da nicht (Bühne: Regina Lorenz-Schweer). Das Licht bleibt durchgängig konstant, eine helle, etwas kalte Bühnensonne, Regieeinfälle Fehlanzeige, Video ebenso. Die Kostüme (Katja Strohschneider) heutig und zugleich ein wenig zeitlos, die Musikauswahl reicht von Mozart bis zum Fünfzigerjahre-Hit „Sea of Love“.

Die Kammerspiele des Deutschen Theaters (Foto: Sascha Krieger)
Die Kammerspiele des Deutschen Theaters (Foto: Sascha Krieger)

Hier, auf einem vollständig von Zuschauern umgebenen Viereck vollzieht er sich also, der älteste Konflikt der Menschheit, jener zwischen alt und Jung, zwischen Vätern und Kindern (der russische Originaltitel spezifiziert das Geschlecht der Jüngeren nicht). Löffner visualisiert das zu Beginn durch eine subtile Choreografie von Gruppierungen und Distanzen. So herzlich das Verhältnis scheint, so weit ist man doch physisch voneinander entfernt. Später verschiebt sich das, doch bleibt das Spiel aus Nähe und Distanz, aus Nebeneinander und Gegenüber doch konstruktives Grundprinzip des Abends. Hier – zunächst – die Jungen: der alles vermeintlich Unnütze ablehnende Bazarow und sein weniger dogmatischer Freund Kirsanow, dort die kunstliebende, liberale ältere Generation um beider Väter. Hier das unverrückbare Prinzip, dort der kompromissbereite Pragmatismus, hier der absolute Wahrheitsanspruch, dort das Wissen um die eigene Fehlbarkeit. Es gehört schon zu den Stärken des Romans, sich auf keine Seite zu schlagen. Auch Friel tut das nicht und Löffner folgt beiden darin. So viel hier debattiert wird, so sehr die Anlage etwas von einer Versuchsanordnung hat – was noch dadurch verstärkt wird, dass die gerade inaktiven Darsteller, nicht nur im Publikum Platz nehmen, sondern auch sichtbar interessiert zuschauen, durchaus emotional auf das Beobachtete zu reagieren scheinen – so wenig konstruiert wirkt dieser Abend.

Obwohl er dies durchaus ist. Ein Paradebeispiel ist die Parallelführung der Implosion des Märchens von der Illusion romantischer Liebe. Auf der einen Seite die zauberhafte Annäherung des großäugigen Kirsanow (Marcel Kohler) an die ihre Verletzlichkeit hinter einem Dauerlächeln versteckende Katja (Kathleen Morgeneyer), die in einer einfach passierenden Liebeserklärung gipfelt, auf der anderen der verkrampfte Versuch von Bazarow (Alexander Khuon) und Katjas Schwester Anna (Franziska Machens) einander näherzukommen, der zu einem herausgepressten Antrag führt und letztlich scheitert. Hier stehen zwei, die es wagen, sich aus ihren Dogmen und Ängsten soweit zu befreien, dass sie Zuneigung zulassen, einem zweiten Paar gegenüber, das dies eben nicht vermag. Und doch wirkt das in keinem Moment konstruiert, scheinen wir Menschen zuzuschauen, die mit sich und dem eigenen Selbstbild ringen, die versuchen zu sich zu finden, wie wir es alle irgendwann müssen. Ein naturalistischer Plauderton gepaart mit sanfter Ironie durchzieht den Abend. Wir erkennen die Lächerlichkeit der selbstgeschaffenen Oberflächen und sehen doch keine der Figuren als lächerliche Gestalt. Jeder – bis hin zum parfumverteilenden Onkel Pawel – ist ein Suchender, auf der Jagd nach Nähe, Wärme, Sinn.

Löffner lässt dabei den Schauspieler*innen viel Raum, den diese dankbar nutzen. Wie Stimmungen auf engstem Raum umschlagen, ohne die Einheit der Figur zu beschädigen ist atemberaubend, wie sich wiederholt die mühsam erhaltene Oberfläche löst, sich die angestaute Angst und Wut Bahn bricht und zugleich die nette, aufgeschlossene Oberfläche Teil, ja Kern der wohlmeinenden, weil einander in Zuneigung zugetanen Persönlichkeiten bleibt, ebenso. Unglaublich bewegend die Trauer von Bazarows Vater (Bernd Stempel) über den Tod des Sohnes: Verzweifelt klammert er sich an schöne Erinnerungen, bricht dann doch zusammen und rappelt sich wieder auf, wenn die vom Schmerz gelähmte Mutter hereinkommt. Er greift zur Ukulele, singt ihr zärtlich ein Lied, sie stimmt brüchig ein. Bald kommen die anderen hinzu, bauen die Bühne um zur Schlussszene, singen gemeinsam und langsam, kaum merklich, wird aus dem Trauer- und Trostlied ein spielerisches Signal der Lebensfreude, die schnell wieder kippt in Traurigkeit und Wut, genauso schnell aber eben auch wieder zurückkehrt. Schmerz und Freude am Leben, Wut und Liebe sind auf engstem Raum vereint, sie bedingen einander, sind nicht zu trennen.

Schauspieler gesondert zu erwähnen verbietet sich eigentlich, so grandios ist die Ensembleleistung. Und doch bleiben manche stärker im Gedächtnis: Stempel natürlich, das gern in Nebenrollen verheizte DT-Urgestein, dass den unbedingt liebenden, seinem Sohn verzweifelt Freiraum zu geben versuchenden, von fast kindlichem Stolz auf ihn erfüllten Bazarow-Vater gibt, Katrin Klein als seine Frau, in ihrer Sorge verkrampfend und im Schmerz erstarrend, Helmut Mooshammer als Vater Kirsanows, jovial, rührend um die Anerkennung des Sohnes buhlend, gutmütig und zugleich verzweifelt auf der Suche nach einem Sinn für sein sich auf der Zielgerade befindenden Lebens, Oliver Stokowski als Onkel Pawel: eitel, konfrontativ und doch auf rührende weise unsicher. Auch die Jungen überzeugen, allen voran die Liebe als physischen Vorgang durchleidende Morgeneyer und der schlaksige Kohler, der wie ein viel zu groß geratener Junge sich unbeholfen in eine Identität findet, von der er nicht weiß, wie sie aussehen wird. Khuons Bazarow ist sicher die undankbarste Rolle: ein verschlossener Dogmatiker, der Emotionen mit höchster Konsequenz ausschießt, so sehr, dass die Faszination, mit der ihm die anderen begegnen, kaum verständlich erscheint. Doch auch ihn ereilt das Irrationale, er sträubt sich mit jeder Faser des Körpers dagegen, doch es bringt ihm zum Zittern, zum Stammeln, zum Zusammenbruch seines Kartenhauses. Am Ende setzt er sich, ein toter, stumm an die Tafel der in ihren Bewegungen eingefrorenen lebenden. Ein Schlussbild, so offen und vielschichtig wie der ganze Abend, der nicht vom Leben erzählt, sondern es auf die Bühne bringt. Einfach so. „Reich mir die Hand, mein Leben“, singen sie zweimal. Die Bitte wird erhört.

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