Fragmente der Ungewissheit

Anthropos Ex (Machina). Theater.Musik.Performance Art, Brotfabrik, Berlin (Theater.Macht.Staat / Regie des Stücks: Sonja Keßner)

Von Sascha Krieger

„Leider sind wir damit nicht ganz fertig geworden“: Dieser Satz von Sonjas Keßner steht am Ende dieses Abends, aber eben auch nicht. Ein Triptychon aus Theaterstück, Konzert und performativer Installation sollte Anthropos Ex (Machina) sein, zurPremiere stehen aber nur die ersten beiden Teile. Vom dritten gibt es Fragmente: eine Rauminstallation mit den ausgedruckten texten, die darin verarbeitetet werden sollten und ein einzelner Film aus der geplanten Arbeit, die baldmöglichst separat nachgeholt werden soll, vorgeführt lange nach dem offiziellen Ende im Raum der Premierenparty. Hier endet nichts, hier wird nur pausiert, folgt auf die (fertige?) Kunst der Teaser, der nicht teil des Ganzen ist aber eben auch doch. Das passt zum Abend, zeichnet er sich doch nicht nur in seiner Gesamtheit, sondern auch in seinen Teilen, durch Unvollendetheit aus, den Charme – und mitunter die Nervigkeit – des Skizzierten, des noch nicht zu Ende Gedachten.

Bild: Sascha Krieger

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Berlinale 2023: Instead of a review

By Sascha Krieger

Finally, Berlinale was back in 2023. After an online-only event followed by an open air summer Berlinale in 2021 and a heavily Covid-regulated 2022 edition (that this reviewer decided not to attend),  the festival was as much back to normal as it could be in a time of multiple crises (the Russian war against Ukraine, the Iran revolution). Unfortunately, „normal“ was nowhere to be found as even Covid-19 made a comeback. This was why it was so quiet on this blog for the past 11 days: just a day before the start of Berlinale, this reviewer finally got hit by the virus, resulting in my inability to attend the festival and even watch a single film. So, instead of being around my neck, the accreditation badge pictured lay idly at home, hoping for a chance to be used that never came. Therefore, Berlinale reviews are missing from this blog for the second year in a row. Hope, we say in Germany, dies last. And, I might add, it never quite does. So, I’m finishing this short note with a promise: Stage and Screen will be back in full force for the 2024 Berlinale. See you next year.

Image: Sascha Krieger

Gut gemeint

Vladimir Jurowski dirigiert das Silvesterkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin

Von Sascha Krieger

Dass das traditionelle Silvesterkonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin auch in diesem Jahr stattfindet, ist vielleicht die größte Überraschung. Chefdirigent Vladimir Jurowskis Unwohlsein ob der Tradition, Beethovens „Neunte“ zum Jahreswechsel aufzuführen, ist nicht neu. 2017 etwa brach er das Werk auf, indem er Schönbergs A Survivor from Warsaw zwischen 3. und 4. Satz schob, in der Folge kam stets ein neues Werk vor dem Hauptprogrammpunkt zur Aufführung. In diesem Jahr wendet sich der Russe direkt an sein Publikum, spricht davon, dass die „Neunte“ längst „Teil des Silvesterkonsums“ geworden sei und wir heute von Beethovens Idealen weiter entfernt seien denn jemals zuvor. Der finale Jubel der menscheitsverbindenden Vision, die vielleicht schon immer nur eine illusion war – Jurowski ringt mit ihr, in diesem Jahr, in dem der Krieg nach Europa zurückkehrte, vom Zaun gebrochen von seinem Herkunftsland, wohl mehr denn je. Und so verspricht er, das werk zu spielen „wie nie zuvor“. Nicht nur setzt er ihm einen eigens vom deutschen Komponisten Ralf Hoyer verfassten „Prolog“ voran, er gibt nach dem 2. Satz auch seinen Dirigentenstab ab: an Natalia Ponomarchuk, eine aus der Ukraine geflohene Dirigentin, ein Zeichen, dass es nicht reicht, Geld und Waffen in das bedrohte Land zu schicken, sondern dass den Menschen von dort auch eine Stimme gegeben werden muss, eine Möglichkeit, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Dass Jurowski damit die Verantwortung für die ungeliebte Tradition im Wortsinn aus der Hand gibt, ist sicher ein nicht unerwünschter Nebeneffekt.

Vladimir Jurowski (Bild: Peter Meisel)

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Reality in a Nutshell

René Pollesch/Fabian Hinrichs: Geht es dir gut?, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: René Pollesch/Fabian Hinrichs)

Von Sascha Krieger

Die Antwort lautet „Nein“. Je öfter Fabian Hinrichs die titelgebende Frage stellt, je klarer wird die Unmöglichkeit ihrer Bejahung. Einskommafünf is die Schlüsselzahl dieses Abends. 1,5 Meter Abstand sollten wir in der Pandemie von einander haben, 1,5 Grad ist das ziel maximaler Erderwärmung, um den Planeten halbwegs bewohnbar zu erhalten. Doch aus ersterem ist längst eine unüberbrückbare Distanz geworden und letzteres erscheint mit jedem Tag illusorischer. Was also tun? Zum Beispiel gegen die Stille, die Abwesenheit anrufen, -schreiben, -klagen. Und sich an die Zeit erinnern, als die Stimme noch anderes konnte, durfte. Singen beispielsweise. Also eröffnet Hinrichs den mal wieder gemeinsam mit René Pollesch gestalteten Abend mit mantrahaften musikalischen Anrufen, unterstützt von zwei wunderbaren Chören, den African Voices Berlin  und den Bulgarian Voices Berlin. „Ich war weg“ skandieren sie und schwanken ob der An- oder Abwesenheit der Maske. Macht sie das Gesicht schöner, weil symmetrischer oder hässlicher, weil weniger authentisch? Warten wir drinnen oder draußen vor der Tür und auf wen?

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Bild: Thomas Aurin

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Various States of Dress

Das go drag! festival  2022 feiert weibliche, non-binäre und trans Drag-Künstler*innen

Von Sascha Krieger

Drag ist eine emanzipatorische Kunstform. Das Aufbrechen von Geschlechterrollen und -identitäten, das freie Spiel mit Binaritäten waren und sind subversive Akte in einer Gesellschaft, in der „Normalität“ noch immer kein Unwort ist, in der jede Abweichung von hierarchisch festgelegten „Normen“ zu Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt führen kann. Drag Art ist deshalb auch untrebnnbar mit dem Kampf um queere Rechte und Sichtbarkeit verbunden, ein Symbol der Befreiung, der Selbstermächtigung, der Erlangung der Hoheit über das eigene Narrativ. Dass Drag heute näher am Mainstream ist als jemals zu vor, dass sich damit etwa Quote machen und Hallen füllen lassen, mag manche*r Puristin als Ausverkauf werten – es zeigt, aber auch, dass der Kampf um Anerkennung durchaus Fortschritte gemacht hat. Dass er angesichts eines auch hierzulande zu beobachtenden Rollbacks, immer selbstbewussterer Queerfeindlichkeit und einer deutlichen Zunahme von Angriffen auf als queer gelesene menschen so notwendig ist wie vielleicht lange nicht, ist ebenfalls Teil der Wahrheit.

Bridge Markland + Guests (Bild: Sascha Krieger)

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Offene Wunden

Herbert Blomstedt dirigiert die Berliner Philharmoniker mit Werken von Schubert und Beethoven

Von Sascha Krieger

Das dieses Konzert überhaupt stattfinden kann, ist ein Glück. Nur ein Jahr trennen den schwedischen Dirigenten Herbert Blomstedt und die kürzlich verstorbene britische Königin. Doch auch wenn man ihm sein Alter mittlerweile durchaus ansehen kann – der Gang ist unsicher und braucht Unterstützung, Blomstedt dirigiert im Sitzen – musikalisch ist der Schwede nach wie vor hellwach und auf der Höhe seiner Kunst. Wer also erwartet haben sollte, dass sein vielleicht (wenn auch hoffentlich nicht) letztes Gastspiel bei den Berliner Philharmonikern von Altersmilde oder gar Abschiedsmelancholie erfüllt wäre, sah, nein hörte sich getäuscht. Mit Schubert und Beethoven hatte er Kernrepertoire dabei, seines und das des Orchesters. Umso erstaunlicher, dass er ersteren in seinen 47 Jahren gemeinsamer Zusammenarbeit noch nie dirigiert hat. Das holte er nun nach, auch wenn Franz Schuberts dritte Symphonie keine Offenbarung war.

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Herbert Blomstedt dirigiert die Berliner Philharmoniker (Bild: Frederike van der Straeten)

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The Greatest Showwomen

Florentina Holzinger: Ophelia’s Got Talent, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Florentina Holzinger)

Von Sascha Krieger

The show must go on. Und so kriecht Captain Hook alias Annina Machaz kurz vor Schluss über die Bühne, ebenso unfähig aufzustehen wie die übrig gebliebenen Jurymitglieder und versucht, die Casting-Show, mit der dieser Abend startete, wiederzubeleben. Doch zu spät, Kinder übernehmen, überrennen die Bühne, die Erwachsenen haben fertig. Hoffnung? Na ja, vielleicht nicht, schließlich wurde die junge letzte Kandidatin gerade gefragt, woher sie denn die Gewissheit habe, die letzte Generation zu sein, ist der blutrote Swimmingpool, in dem die Kinder tollen, übersät mit Plastikflaschen-Müll. Aber wenn eh alles verloren ist und alle anderen versagt haben, warum nicht noch mal was Neues versuchen? Das Alte hat abgewirtschaftet, die Jury verloren. Wenn schon Apokalypse, dann lustvoll. Eine andere Show, eine bessere Show, um Heine sehr frei zu paraphrasieren. Obwohl, so schlecht waren die vorangegangenen fast drei pausenlosen Stunden nicht.

Bild: Nicole Marianna Wytyczak

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Dienst nach Vorschrift

Musikfest Berlin 2022 – Franz Welser-Möst dirigiert The Cleveland Orchestra mit Werken von Rihm und Schubert

Von Sascha Krieger

Welch ein Kontrast: Wo Klaus Mäkelä beim Eröffmnugskonzert am Schluss wie ein Leistungssportler schwitzte, wo Yannick Nézét-Séguin vor zwei Tagen enthusiastisch zu seinen Solist*innen lief, um ihnen zu danken, hat Franz Welser-Möst nicht mehr zu bieten als einen großzügigen Fingerzeig, wo beim Ganzspiel des Philadephia Orchestra insgesamt drei Zugaben zu hören waren, gönnen die Kolleg*innen aus Cleveland der zugegeben recht spärlich besetzten Philharmonie keine einzige. Das passt zu diesem Abend, an dem die Zaubertruhe musikalischer Magie, welche die beiden anderen Maestri zumindest zu öffnen versuchten, geschlossen. Diesen Gastspiel klingt nach Dienst nach Vorschrift, nach technisch sauberem Handwerk ohne Risiko, aber eben auch ohne Glanz, ohne Offenbarung, ohne Neugier.

Franz Welser-Möst dirigiert The Cleveland Orchestra in der Philharmonie Berlin (Bild: Roger Mastroianni / The Cleveland Orchestra)

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Die wiedergewonnene Stimme

Musikfest Berlin 2022 – Yannick Nézét-Séguin dirigiert das Philadelphia Orchestra mit Lisa Batiashvili

Von Sascha Krieger

Fast könnte die*der nicht ganz so aufmerksame Zuhörende meinen, er lausche Klängen Antonín Dvořáks, so sehr erinnert die Mischung aus amerikanischer Liedsprache und hochromantischer Symphonik dem Werk des Tschechen aus seiner US-amerikanischen Schaffensphase. Doch nein, was hier zu hören ist, ist nicht die nicht unproblematische Aneignung und Übersetzung teilweise nicht-weißer Musikkultur durch den berühmten Komponisten, sondern eher ein „Reclaiming“ dieser musikalischen Welten durch eine Schwarze Frau, die lange vergessene Komponistin Florence Price, deren erste Symphonie das Philadelphia Orchestra zu seinem Gastspiel in Berlin mitgebracht hat. Dessen Chefdirigent Yannick Nézét-Séguin bemüht sich seit Jahren um die wiederentdeckung des Werks der 1953 im Alter von 66 Jahren Verstorbenen. Kein Wunder, dass auch die erste Zugabe von ihr stammt, das sanft schmachtende Adoration, mit dem die Streicher ihren typischen warmen, angedunkelten, schlanken Klang ausstellen dürfen.

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Yannick Nézét-Séguin und Lisa Batiashvili mit dem Philadelphia Orchestra in der Berliner Philharmonie (Bild: Todd Rosenberg Photography / Philadelphia Orchestra)

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Volle Kraft voraus

Musikfest Berlin 2022 – Klaus Mäkelä und das Royal Concertgebouw Orchestra eröffnen das Musikfest Berlin

Von Sascha Krieger

Am Ende erinnert Klaus Mäkelä eher an einen Hochleistungssportler (der er in seinem Alter durchaus sein könnte): Die Haare schweißgetränkt, die Anstrengung in sein Gesicht gemeißelt, muss der Finne erst einmal kräftig durchatmen, bevor er sich dem stürmischen Applaus stellen kann. Der 26-Jährige ist ein Phänomen: Chefdirigent zweier renommierter Orchester (der Osloer Philharmonie und dem Orchestre de Paris) ist er neuer „Künstlerischer Partner“ und designierter zukünftiger Chef eines Klangkörpers, den manche nach wie vor für den besten der Welt halten: das Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam. Eine Karriere, die ihresgleichen sucht, zumal der jugendlich wirkende Maestro zunächst eine Laufbahn als Cellist im Auge hatte. Als Dirigent gilt er als Naturtalent, die Statements, mit denen die Amsterdamer die Zusammenarbeit bekannt gaben, flossen nur so über vor Begeisterung. Sofort habe es gepasst mit ihm, jubeln sie, und ja, die Chemie ist auch beim Berliner Gastspiel zu spüren. Und auch der Jochleistungssport-Vergleich passt, denn was Orchester und Dirigent in diesen zweieinhalb Stunden leisten, hat olympisches Nivea. Da ist kein Zurücknehmen, da ist jede Sekunde erfüllt von hundertprozentigem Einsatz, von enthusiastischer Hingabe, von vollständiger Verausgabung.

Eröffnungskonzert Musikfest Berlin 2022
Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra beim Musikfest Berlin 2022 (Bild: Fabian Schellhorn / Berliner Festspiele)

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