René Pollesch: Cry Baby, Deutsches Theater, Berlin (Regie: René Pollesch)
Von Sascha Krieger
Zurück auf Anfang? Als René Pollesch zum letzten Mal in Berlin inszenierte, war alles anders aber schon nichts mehr gut. Eineinhalb Jahre ist es her, die Volksbühne war noch, Bert Neumann sei Dank, eine Mischung aus Asphaltdschungel und Großraumdisko. Pollesch gehörte mit Dark Star der löetzte Abend der Castorf-Zeit, ein melancholisches Nicht-Abschiednehmen wie so manche vor ihm, ein Verglühen in Ratlosigkeit. Jetzt ist er wieder da, die Volksbühne wieder ein zu beschreibenden weißes Blatt und Pollesch findet Unterschlupf im altehrwürdigen deutschen Theater. Damit haben sich die Volksbühnen-Granden verteilt – Castorf inszeniert nebenan am BE, Herbert Fritsch an der Schaubühne – und vielleicht irgendwie den Rest der Stadt erobert. Aber, first things first, erstmal gilt es, von der neuen Bühne Besitz zu ergreifen. Die sich auf den Neuzugang einiges einbildet, nicht zufällig bekommt Pollesch die Saisoneröffnungspremiere. In der er sich dann auch ausgiebig der Exil-Heimat widmet.

Weiter weg von der Volksbühnen-Weite könnte Barabara Steiners Bühne kaum sein. Sie akzentuiert nicht nur die vergleichsweise Enge, sondern auch die Altehrwürdigkeit, den etwas konservativeren Traditionalismus des Hauses. Vorhänge, wohin man blickt: Hinten ein geraffter schwarzer, in der Bühnenmitte ein mit Salonmotiv bemalter, der ein altmodisches Bett umspielt, links uns rechts zwei Zusatzlogen, welche die echten des DT spiegeln und die ebenfalls bevorhangt sind, später senken sich noch gleich zwei schwere rote auf die Bühne. Hier ist alles Theater, aber so sehr, so überdeutlich und übertrieben, dass es schon nicht mehr wahr sein kann. Ein Zuviel, das ermüdet. Also treten die Darsteller*innen in Pyjama und Nachthemd auf. Der Wunsch zu schlafen ist das erste, das von den Lippen Sophie Rois‘ – weiterer Neuzugang am DT von der Volksbühne – auf den Bühnenboden platscht. Doch das Bett ist schnell besetzt, von einem Chor aus Ernst-Busch-Schauspielschülerinnen in quietschbunten Schlafanzügen. Also nix Schlafen, sondern Diskurs – wir sind hier schließlich bei Pollesch.
Gut, los geht’s. Und worum? Liebe natürlich, gesellschaftlichen Erfolgsdruck, Kunst in Zeiten der Effizienz, die Nützlichkeitsreligion unserer Zeit. Alles nichts neues und doch irgendwie anders. Denn der Schauplatz, auf de das ausgetragen wird, ist, und das ist ein Kommentar auf, eine Reflexion über Polleschs „Neuanfang“, das Theater. Angetrieben von einem auf sein Geld wert seiende Unterhaltung pochenden Zuschauer (Bernd Moss) ringt das Ensemble, neben der resignativ wütenden und leidenschaftlich glühenden Rois und dem trotzig insistierenden Moss die sachlich belehrende Judith Hofmann und die freundlich beharrende Christine Groß, um ihre Rollen – als Vertreter*innen des theaters und – natürlich – im Wortsinn. Der Abend verwurstet reichlich Material vom surrealen Pseudorealismus eines Luis Buñuel bis zur Heldenbefragung über Kleists Prinz von Homburg, auch so ein Bilanzierungsstück (es war Peymanns letzte Premiere am BE) bis ins Antike. Der Diskurs rutscht immer wieder in Spielszenen, bis zuletzt Rois mit Tragödinnenpathos die Klytämnestra gibt. Konventionen werden befragte, Begrifflichkeiten abgeklopft, das Genialische in Grund und Boden geredet. Theater als Ort der Nützlichkeit ist schnell verworfen, als Ausdruck eines geniales Selbst aber auch. Nur was ist es dann?
Liebhaberkunst vielleicht. Doch was ist das eigentlich? Minutenlang wird der Begriff gewälzt, sich in der Frage verstiegen, ob, wer das Theater liebe, nicht dafür bezahlen müsse, es zu machen. Ein konsumistischer Kunstbegriff auf den Kopf gestellt. Und immer wieder der Schlaf als Gegenpol, ein Raum des Verschwindens aller Konventionen, aller Zwänge, aller Erfolgsfantasien. reiner Selbstzweck, lebensnotwendig wie – an der Oberflüche – unnütze (Lebens)Zeitverschwendung. Und nein, ums Träumen ginge es nicht, nur ums Schlafen. Doch was dann? Ein „Theater ohne Proben“ schwebe ihr vor, sagt Rois einmal. Eines das sagt: „Wir können es auch nicht, aber wir haben wenigstens nicht zwölf Wochen lang geprobt.“ Und immer wieder beißt sich die diskursive Katze in den Schwanz, landen die Spieler*innen auf Los, kommen sie da an, von wo sie losgelaufen sind. Egal, weiter, immer, weiter, wie ein ehemaliger Torwart-Titan gesagt hätte. Also geht es immer weiter, wird der Chor zum Erschießungskommando, wechselt der Fokus von heldischen Selbstauslschungsfantasien zur Effizienzreligion der Teamfähigkeit, die er sofort ins Absurde führt, und die am Ende in der aggressiven Überzeugungskraft des kollektiven Chor-Ichs triumphiert.
So sehr sich die individuellen Künstler*innen in Selbstvergessenheit verlieren und sich in sie befreien wollen, so wenig lassen sie die Zwänge los. „Ich fange dann mal an zu reden“, sagt Hofmann und geht diskutierend ab. Was sie sagt, geht im musikalischen Vordergrund unter. Roy Orbison singt „Crying“ und der Chor vergießt an der Rampe sitzend bittere und ungemein authentische Tränen. Da hat der längst verschwundene Zuschauer seine Unterhaltung. abgrundtief falsch und vollständig plausibel. Der Zuschauer will was für sein Geld. Und bekommt so manches an diesem Abend: klassische Tragödie, bürgerliches Trauerspiel, Choreografien und ein 1A-Fechtduell zwischen Rois und Moss. Und so ist dieser Abend alles andere als ein ermüdendes Diskursmonster, er ist Spiel, dessen Reflexion, sein Ausprobieren und Vorführen und entlarven. Alles ist falsch, alles echt, denn die Liebhaberei ist doch eine Tochter der liebe. Und die, so sagte es doch gerade Helene Fischer so schön, gewänne immer. Ein Aufbruch, ein Neuanfang, ein weitermachen ist der „neue Pollesch“. Alles gleich, alles anders. Und vielleicht gar eine Liebeserklärung? An wen oder was? Egal. Hauptsache Theater.