In der eigenen Falle

Nach Didier Eribon: Rückkehr nach Reims, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin / Manchester International Festival MIF (Regie: Thomas Ostermeier)

Von Sascha Krieger

Natürlich ist das kein Zufall. Am Tag, als – und das war seit Monaten vorhersehbar – zum ersten Mal nach dem Ende der NS-Diktatur eine Partei der extremen Rechten in Fraktionsstärke in den Deutschen Bundestag einzieht und gar drittstärkste Kraft wird, bringt die Schaubühne ein Buch auf die Bühne, das sich – unter anderem – damit befasst, wie ein ehemals eng der radikalen Linken verbundener Teil der französischen Arbeiterschicht zu dem werden konnte, was er heute ist: der Nährboden und das Fundament einer der erfolgreichsten und radikalsten rechtsextremen Parteien Europas, des Front National. Rückkehr nach Reims des selbst besagter Schicht entstammenden Soziologen Didier Eribon ist eine persönliche Beschreibung einer Heimkehr, einer Selbstvergewisserung über die Akzeptanz der eigenen Herkunft. Eribon will anhand seiner eigenen Familie und seines individuellen Emanzipationsprozesses aufzeigen, wie auch das Wahlverhalten der gern so genannten „Unterschicht“ beeinflusst wird, ob und auf welche Weise sie sich in gesellschaftlichen Diskursen gespiegelt sieht, wie das (französische) Gesellschaftssystemen beispielsweise im Bildungsbereich darauf ausgelegt sei, den Status Quo der „Klassenunterschiede“ (Eribon ist nach wie vor stark marxistischem Denken verpflichtet) zu verfestigen.

Bild: Arno Declair

Von der heimischen Enge, dem alltäglichen Rassismus und Hass auf alles „Andersartige“ – Eribon war als Schwuler schnell Außenseiter – dem Sich-Fügen ins vermeintlich Unvermeidlichen schlägt er den Bogen ins Gesamtgesellschaftliche – bis hin zu Erklärungsversuchen, warum es gerade die Rechten, die, würde ihr Programm umgesetzt, jene, die sie wählen, eher noch schlechter stellen würden, sind, in denen die „Zurückgelassenen“ ihre letzte politische Hoffnung zu finden glauben. Und er beschreibt, welche Rolle die etablierte „Linke“ seiner Ansicht nach bei diesem Verschiebungsprozess spielt. Angesicht der Tatsache, dass sich viele der Analysen zur Motivation der Wähler des Front National auch auf jene der AfD übertragen lassen, ein Abend, der nicht relevanter sein könnte. Der anregen könnte, eigene politische Gewissheiten und Vorurteile zu hinterfragen und über eine ehrliche Analyse vielleicht auch der eigenen Rolle, jener des so genannten aufgeklärten – und meist nicht allzu rechts verorteten – Bildungsbürgertums, am Erfolg der extremen Rechten nachzudenken. Umso ärgerlicher, dass dieser Abend all diese Möglichkeiten verschenkt. Schlimmer noch: Es ist ihm nicht anzumerken, dass er es überhaupt versuchte.

Thomas Ostermeier wählt für seine Bearbeitung ein einfaches Format: eine realistische Szenerie in einem nicht mehr taufrischen Tonstudio (Bühne: Nina Wetzel), in der eine Schauspielerin (Nina Hoss) den Text zu einem Dokumentarfilm über Eribon und sein Buch einspricht. Der Text besteht ausschließlich aus Passagen des Buchs. Der Film ist – unter Mitwirkung Eribons – von Ostermeier und Sébastien Dupouey gedreht worden und zeigt Eribon beim Besuch alter Wohnorte, beim Betrachten alter Fotos mit seiner Mutter, beim nachdenklichen In-die-Ferne-Blicken während einer Zugfahrt – das Standard-Bild, wenn es mal wieder etwas Grundsätzlicher wird. Hinzu kommen Galerien von verlassenen Orte, Arbeiter*innen-Gesichtern, Industrieszenen, historische Aufnahmen etwa von vergangenen politischen Kämpfen. Ist von einer Talkshow die Rede, in der Eribon auftrat und die den so feindseligen Vater mit Stolz erfüllte, wird ein Ausschnitt aus jener gezeigt, spricht Eribon von einem prägenden Lied, hören wir selbiges, zeigt er des Vaters Homphobie anhand dessen Hass auf vermeintlich Schwule wie den Schauspieler Jean Marais sehen wir einen Ausschnitt aus einem seiner Filme.

Hoss liest in einem wenig variablen Tonfall, ruhig, nachdenklich, mit einer stets präsenten melancholischen Note, dazu flimmern Bilder, die das Gehörte nicht uninspirierter und plakativerer illustrieren könnten. Eribons Worte fallen ungebremst auf den Boden und versickern dort, ohne Spuren zu hinterlassen. Das Tandem von Text und Bildern befruchtet einander nicht, sondern lullt ein, lässt den Zuschauer zurücksinken, wissend den Kopfnicken angesichts der sozialen Be- und Zuschreibungen Eribons. Sonst passiert nichts. es gibt keine Brüche, keine Ambivalenz, nichts, wo irgendwo das Zuschauer*innen-Hirn gezwungen wäre, sich einzuschalten. Das wird auch Ostermeier aufgefallen sein und so erinnert er sich, dass neben Hoss noch zwei weitere Darsteller auf der Bühne stehen. Renato Schuch als Toningenieur Toni tut er schnell ab. Er darf sich mit dem Regisseur (Hans-Jochen Wagner) um Geld streiten und – wohl auch um das Publikum bei der Stange – einen schmissigen  zum Besten geben. Damit ist seine Funktion schon erschöpft.

So viel besser ergeht es Wagner auch nicht. Hoss, die hier Katrin heißt, bricht irgendwann ab, weil sie die Streichung einer Passage nicht mittragen will. Man debattiert darüber, Hoss in einem routiniert irritierten Tonafall, der Skepsis gegenüber einfachen Antworten anzudeuten scheint, Wagner als hilflos blasierter intellektueller Schwächlich, der wohl gut ins Weltbild von Eribons Vater gepasst hätte. Hier wäre eine Chance, Brüche zu setzen, den simpel plakativen Film als Ausdruck der Weltsicht des Regisseurs zu entlarven und den Zuschauer*innenblick herauszufordern, sie/ihn zur Positionierung zu zwingen. Das geschieht jedoch nicht. Das Streitchen ist amüsant, weitgehend belanglos und von erschreckender Holzschnitthaftigkeit. Das passiert noch ein zweites Mal, bevor man sich eine Woche später wieder trifft. Der Regisseur hat den Schluss geändert, setzt auf den großen gesellschaftlichen Zusammenhang, Hoss‘ Figur fehlt das konkrete, das sie eher simplistisch als Persönliches deutet. Also darf sie am Ende lang und breit vom eigenen Vater – nun ist sie Nina Hoss, ohne dass sich an der realistischen Spielsituation etwas geändert hätte – als Gegenentwurf zu Eribons. Dieser, selbst Arbeiter, blieb Zeit seines Lebens links, blieb Aktivist, ob in Partei (er war KPD-, DKP-Mitglied und später Mitgründer der Grünen) oder der großen Welt – mit Mitte 60 ging er nach Brasilien und arbeitete für soziale Projekte, über die Hoss pflichtschuldig ein paar Handyfilmchen zeigt.

Eribons Determinismus, sein Diktum vom System, das vorzeichnet, was für Mitglieder bestimmter schichten möglich ist und was nicht – sich selbst betrachtet er eher als die Regel bestätigende Ausnahme – verpufft dabei ganz schnell und man ist erschreckend nah an der alten liberalen Floskel, alles sein möglich, wenn man es nur wolle. Zumal diese persönliche Ebene jede Distanz verhindert, die doch für eine ernsthafte Analyse so wichtig ist. Am ende fühlt man sich gut, wissend, warm eingepackt in der eigenen Komfortzone derselben Überlegenheit, die Pierre Bourdieu, eines von Eribons Vorbildern, im Programmheft als „Rassismus der Intelligenz“ entlarvt. War der Abend gestartet, um den Schleier vom Rätsel und die Attraktivität der Rechten unter denen zu lüften, die sich als Verlierer zu sehen gelernt haben, bestätigt er eher die Prozesse, die eine solche Entwicklung – willentlich oder nicht – unterstützt haben. Die faule Sehnsucht nach einfachen Antworten zeigt sich gerade da, wo vermeintlich selbige abgelehnt werden. Doch resultiert das hier nur darin, diese durch angenehmere des gleichen Komplexitätsgrads zu ersetzen. Ein Abend, der gerade an diesem Tag die Augen öffnen. wenn auch eher unfreiwillig.

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