Theater im Kopf

Forced Entertainment: Dirty Work (The Late Shift), PACT Zollverein, Essen / Hebbel am Ufer (HAU1), Berlin (Regie: Tim Etchells)

Von Sascha Krieger

Was alles an diesem Abend passiert: Atombomben explodieren, Autos krachen ineinander, tausende Schmetterlinge schwirren durch den Raum, ein Mann entleert seinen Darm auf die Bühne, es gibt politische Attentate, Selbst- und andere Morde, wir schauen einer Leiche bei ihrer Zersetzung zu, die Wright Brothers fliegen davon und die Righteous Brothers singen dazu, es gibt Schockierendes und Weltbewegendes, aber auch Alltägliches und Berührendes. Ein Panoptikum des Lebens. All das und viel, viel mehr ist zu bestaunen, ist zu sehen in den fünf Akten der neuen Arbeit von Forced Entertainment, einer Weiterentwicklung ihres Abends Dirty Work aus dem Jahr 1998. Zu sehen? Ja, aber nur, wenn der Zuschauer den Blick abwendet von der Bühne, ihn nach innen richtet, oder – besser, aber auch gefährlicher aufgrund des Risikos wegzunicken – die Augen schließt. Denn der Blick auf die Bühne offenbart: nichts.

Das Hebbel am Ufer/HAU1 (Bild: Sascha Krieger)

Nun gut, nicht ganz. Zwei Darsteller*innen, Robin Arthur und Cathy Naden, sitzen in mehr oder weniger eleganter Kleidung (ihr lila Abendkleid ist um einiges stilsicherer als sein grünes Satinhemd) und erzählen. Abwechselnd beschreiben sie Szenen, lassen sie fragmentarisch stehen, um zur nächsten überzugehen. Sie wechseln einander ab, beginnen eine Art Wettstreit, der in Intensität mal zu-, dann wieder ab- und erneut zunimmt – um die besten Geschichten, die schockierendsten Momente, die abstrustesten Einfälle. Man stellt Stories nebeneinander, nimmt auch mal den Faden auf, um den anderen zu überbieten, zuweilen kommt es gar zu so etwas wie einer gemeinsam erzählten Geschichte. Im Hintergrund sitzt Terry O’Connor in schwarzer Robe und bedient stumm einen Plattenspieler. Sanfte Klaviermusik begleitet die Erzählstunde unter dem stilechten gerafften Theatervorhang.

Strategie des Erzählens, der künstlerischen Vermittlung von Realität, der Kommunikation mit dem Publikum, standen schon immer im Mittelpunkt der Arbeiten des britischen Theaterkollektivs. In Dirty Work (The Late Shift) treiben sie diese Beschäftigung mit dem Verhältnis von Theater und Wirklichkeit gewissermaßen auf die Spitze, indem sie ein bildmächtiges, assoziationsstarkes, weltumspannendes Theatererlebnis erschaffen – und das ganz allein aus dem gesprochenen Wort. Ist der Zuschauer zunächst eher ein Zuhörer, wird er später unweigerlich zum Regisseur, zum Bühnen- und Kostümbildner, zum Video- und Lichtregisseur, kurz: zum Theatermachen. Kein Kopfkino entsteht, sondern ein Kopftheater. Irgendwo zwischen Kammerspiel und Tragödie, Varieténummer und Farce, Mystery-Thriller und Totaltheater à la Castorf is der wilde Geschichten- und Genremix angesiedelt, den das Publikum – jeder für sich – zusammenzusetzen hat. Wobei natürlich auch die Option der Verweigerung besteht – auch dies ist Teil des Konzepts, eingebautes Risiko.

Es ist – wie immer bei Forced Entertainment – ein Spiel mit Erwartungshaltungen, ein Angebot, vermeintlich Altbekanntes neu zu sehen und auf diese Weise Fragen zu stellen, die einem bei herkömmlicher Vermittlung kaum einfielen (ihr „Table Top Shakespeare“ ist ein gutes Beispiel). Und natürlich hinterfragt es auch die Herkunft dieser Erwartungen. In diesem Fall ist es die mediale Realität unserer Zeit, die, mehr noch als zur Entstehungszeit der ersten Fassung von Dirty Work, in einem ständigen Schneller-höher-weiter gefangen scheint. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, muss man immer noch eins draufsetzen, spektakulärer, provokanter, brutaler, greller sein als die anderen. Der Abend reflektiert dies, indem er das Prinzip zum Strukturmerkmal macht (durch den Wettstreit der Erzähler*innen) und zugleich untergräbt, weil die Jagd nach dem Spektakel Illusion bleibt, die Diskrepanz zwischen dem Behaupteten und dem – vermeintlich – Realen der Bühnensituation der zuweilen zu vergessende Elefant im Raum bleibt. Die Tendenz unserer Zeit, das Leben zu dramatisieren, es nur wahrzunehmen, wenn es in bestimmten dramaturgischen Bögen gehorchenden Narrative passt, stellt der Abend so beiläufig wie eindrücklich aus.

Auch die Überforderung des (post)modernen Menschen durch die Bilder- und Informationsflut – die Dirty Work (The Late Shift) gleichzeitig spiegelt und verweigert – ist eingebaut. Unweigerlich klinkt sich der Zuschauer zwischendurch aus, auch dieser Rezensent etwa hat mit Schlafattacken zu kämpfen, wird das Geschichtensammelsurium mitunter zum undefinierbaren Rauschen. Das dann irgendwann doch wieder in seinen Bann zieht. So schlicht, so stringent, so logisch wie hier haben Forced Entertainment die mediale Wirklichkeit unserer Zeit, unsere Gier nach immer neuen, spektakulären Geschichten – was die Sehnsucht nach einem Aussteigen, die immer auch eine nach Geschichten, wenn auch vermeintlich anderen, stilleren ist, einschließt – offen gelegt. In einem Theater, das diese Menchanismen nutzt und sie zugleich dekonstruiert, das mit dem Spiel aus An- und Abwesenheit, aus Partizipieren im medialen Diskurs und dessen Verweigerung eine Spannung aufbaut, die natürlich in ihrer Essenz theatral ist. Sie erzeugt Freiheit im Zuschauer und schränkt sie gleichzeitig ein, sein Spielraum, eigene Bilder zu schaffen, ist vom vorgegebenen Narrativ, aber auch der hektischen Abfolge, die wenig Raum lässt, eingeschränkt. Und parallel sind die so erschaffenen Bildwelten eben auch immer zu hinterfragen, anzuzweifeln, in ihrer Intention zu entlarven. Ein schlichter, simpler Abend von kaum fassbarer Komplexität.

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