Musik als Naturgewalt

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker zum ersten Mal seit seiner Wahl zum zukünftigen Chefdirigenten

Von Sascha Krieger

Natürlich ist es das am heißesten erwartete Konzertereignis des Jahres in Berlin. Erst drei Mal hat Kirill Petrenko die Berliner Philharmoniker dirigiert, zuletzt vor fünf Jahren. Mehrfach hatte er, auch kurzfristig, gemeinsame Auftritte abgesagt. Trotzdem wählte ihn das Orchester vor bald zwei Jahren zu ihrem nächsten Chefdirigenten – wie man hört, nicht ohne einige Überzeugungsarbeit bei ihm leisten zu müssen, auch dies ein Novum bei der Besetzung des begehrtesten Postens der Musikwelt. Und erst jetzt steht er hier endlich am Pult und auch dies nur für zwei statt der üblichen drei Konzerte. Interviews gibt er nicht und will das auch in Zukunft so halten. Nun weiß man: Was rar ist weckt Begehrlichkeiten und so ist die Erwartung mit Händen zu greifen, schon bevor der leicht schüchtern lächelnde Mann ans Pult tritt. Nicht weniger soll er, als in eineinhalb Stunden netto belegen, warum er genau hier hingehört, warum er Nachfolger sein darf von Bülows, Nikischs, Furtwänglers, Karajans, Abbados, Rattles. Symphonisches Kernrepertoire hat er dabei: Mozarts „Haffner“-Symphonie, Tschaikowskis „Pathétique“, dazu, auch dies sicher ein Statement, ein Werk des derzeitigen Composer in Residence des Orchesters, John Adams.

Kirill Petrenko dirigiert die Berliner Philharmoniker (Bild: Monika Rittershaus)

Wer nun befürchtet hatte, Petrenko könnte versuchen, sich mit einer Art „Greatest-Hits“-Konzert anbiedern wollen, seine musikalische Expertise darlegen mit sorgfältig ausgefeilten Interpretationen, die niemandem wehtun und kein Risiko eingehen, sieht sich schnell getäuscht. Nein, dies, die Zusammenarbeit des Orchesters mit seinem nächsten Chefdirigenten, ist Neuland, und so begibt man sich gemeinsam auf eine Expedition. Das ist schon im Kopfsatz der Mozart-Symphonie spürbar. Petrenkos gerühmter wie gefürchteter Hang zum Detail ist hier zu verfolgen. Die Detailschärfe ist atemberaubend, während die genaueste Herausarbeitung der unterschiedlichen Ausdrucksmodi, die Abgrenzung der verschiedenen Themen und Passagen zu Kostrasten führen, die in jedem Moment sagen: Nein, eine leicht zugängliche Version dieser Feiermusik gibt es heute nicht zu hören. Gemeinsam arbeiten sich Dirigent und Orchester hinein in das musikalische Material, treiben die Suche mit viel Zug voran, immer wieder gibt es explosive Elemente, die Unruhe vermitteln, ein Brodeln unter der Oberfläche, das dem Zuhörer sagt: Hier ist nicht alles Harmonie. Der Grundton ist dunkel, erdig zuweilen.

Dabei dürfen die Streicher etwa im zweiten Satz auch mal schwelgen, ihren unverwechselbaren Klang, der seine Ursprünge in Karajans Schönheitswahn nie ganz abgelegt hat, zelebrieren. Zugleich pulst hier das Leben, ist jede Wendung kantenscharf gesetzt, jede Núance glasklar ausgestellt, gibt es keine Routine, kein gedankenverlorenes Fließen. Diese Musik ist in jeder Sekunde hellwach und bereit hervorzuspringen. Feine Rhythmik und ein dunkler Grundgestus zeichnen den dritten Satz aus, bevor der Sturm hervorbricht: Das Finale ist ein Naturereignis. Extrem schnelle Tempi, harte Kontraste, Philharmoniker auf der Stuhlkante sitzend, die Pauken als Antreiber, Störer, Bruchsetzer. Die Festmusik strahlt in tausend Farben und ist doch so viel mehr als die Gelegenheitsarbeit, die das Werk einmal war. Explosiv-treibendes steht neben stiller Lyrik, reiben sich aneinander, versorgen einander mit Energie. Gemeinsam suchen Petrenko und Philharmoniker nach dem Kern dieses mittleren Mozarts. Ob sie ihn finden, ist unklar, was sie aber aufdecken, sind Linien, die weit hinausreichen, offene Türen, deren Dahinter zu erforschen lohnen könnte. Bis an den Rand der Dissonanz treibt Petrenko das Stürmen, das Orkanstärke erreicht.

Dies sollte vorbereiten auf Peter Tschaikowskis Sechste und doch trifft diese das Publikum mit der Gewalt eines Wirbelsturms. Sacht, ernst der Beginn in den tiefen Bläsern, doch schon der erste Streicher-Einfall zeigt: Hier ist es mit der Ruhe vorbei. Herausfordernd, fast scharf fallen sie der Getragenheit ins Wort. Das Lamento vom vergebenen Leben, als das die „Pathétique“ gern gesehen wird, weicht hier einem atemlosen Ringen des existenziellen. Hoffnung und Verzweiflung, Leben und Tod, Frieden und Gewalt werfen sich 50 Minuten lang ohne Unterlass in den musikalischen Ring. Rückzüge in die stille folgen auf unvermittelte Einbrüche, von einer so explosiven Kraft, dass so mancher Zuhörer wiederholt aufgeschreckt wird ob der zerklüfteten Landschaft, die Petrenko hier malen lässt. Lebendig lichter Gesang der Holzbläser, breitwandig dichte Streicher, organische Anschwell- und Farbanreicherungsbewegungen und gewalttätige Entladungen: Der Kopfsatz ist ein vielgestaltiges musikalisches Universum von der Durchschlagskraft eines Kernreaktors, der sich gerade so noch kontrollieren lässt. In diesem Werk nie gehörte vulkanische Kraftausbrüche stehen neben beinahe fragmentarischen Annäherungen an die Stille – und das alles in einer messerscharfen Klarheit, die selbst dieses Orchester an seine Grenzen bringt, zu denen sie ihrem zukünftigen „Chef“ aber mit Begeisterung folgen. Eindrucksvoll die Wiederkehr des Streicherthemas am Ende: rauer, auf dem Weg zur Selbstauflösung, ein großes Fragezeichen in vollem Orchester

Vielstimmig und farbenreich der ruhigere zweite Satz, in dem es unter der Oberfläche weiter bewegt bleibt, zunehmende Transparenz wie eine Herausforderung wirkt. Dann der dritte: Ganz unschuldig hebt er an: Keck und spielerisch wuselt das Orchester in voller Klangfarbenausprägung, scheu hebt das Marschmotiv seinen Kopf, kaum merklich zunächst. Langsam gewinnt es an fahrt, übernimmt die Führung, steigt die zunächst unterschwellige Aggressivität. Dann, plötzlich, bricht die Hölle los, öffnet sich der Abgrund, donnert und blitzt es in der Philharmonie, verdichtet und verfinstert sich die Landschaft bis zu einer Gewalttätigkeit, die ihresgleichen sucht. Das menschliche Ringen um Leben, der Tanz am Abgrund des Todes – hier werden sie zum ultimativ existenziellen Kampf, in dem es um alles geht. Als der Satz endet, ist ein kollektives Durchatmen im Publikum hörbar. Extrem dann noch einmal die Kontraste im Finale: Filmische Breite, Auflösungsbewegungen, explosive Kraftentladungen gestalten ein Spannungsfeld, das alles beinhaltet und nichts löst. Petrenko setzt lange Pausen, nutz den Stillstand, das abbrechen als strukturierendes Element. Die Suche führt ins Leere, ins Nichts, das auch alles sein könnte, Urgrund und Endpunkt. Dieser ist ernst, schnörkellos, schlank und ohne Pathos. Keine Auflösung, keine Erlösung. Die menschliche Existenz als klaffende Wunde. Orkanartige Begeisterung. Zu Recht.

Viel Licht, ein wenig Schatten: John Adams Walt-Whitman-Vertonung The Wound-Dresser, zwischen Mozart und Tschaikowski platziert, verpufft ein wenig. Das liegt nicht an Bariton Georg Nigl, dessen sachlich reduzierter und gezielt pointierter Klagegesang die meditative Note dieses Stücks, basierend auf einem Gedicht über die schrecken des amerikanischen Bürgerkriegs, genau trifft. Petrenko dagegen weiß weniger mit dem Werk anzufangen. Ist der fahl reduzierte Beginn noch überzeugend, bietet Konzertmeister Daishin Kashimotos überraschend affirmativ schneidende und kristallklare Klage als Dialogpartner des Solisten noch eine stimmige Interpretation, ist danach vieles zu schwer, zu massiv, zu sehr vom Willen, die Musik gestalten zu wollen, geprägt, anstatt sie als fahl minimalistische Grundierung zu belassen. Es ist ein Zeichen – wie auch Teile des Mozarts – einer künstlerischen Beziehung, die noch am Anfang steht. Das Potenzial dieser Verbindung ist jedoch jedem Klar, der mit schlotternden Knien und innerlich aufgewühlt den Konzertsaal verlässt.

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