Auf zehn Klavieren ins Blaue

Herbert Fritsch: Pfusch, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Herbert Fritsch) – eingeladen zum Theatertreffen 2017

Von Sascha Krieger

Was kann nach der Apokalypse eigentlich noch kommen? Eigentlich nichts mehr, nur noch ein Ewigkeit Glückseligkeit oder Leiden, je nachdem auf welcher Seite man steht. Stillstand. Langeweile. Bei Herbert Fritsch kommt danach: Pfusch. Eigentlich hatte schon in der vergangenen Spielzeit schon das Weltenende beschworen, aber das seiner theatralen Welt, mitunter auch Volksbühne genannt, verzögert sich noch ein wenig. Noch ein Jahr muss es weitergehen, also braucht es auch noch einen Abend von Herbert Fritsch. Das kann, wo alles gesagt ist, natürlich nichts werden. Oder eben: Pfusch. Herbert Fritsch ist der große Sinnzertrümmerer, -hinterfrager, -lächerlichmacher, -ad-absurdum-Führer des deutschsprachigen Theaters. Er hat Klassiker bis auf die Essenz ausgepresst, das Musiktheater in tausend Splitter zerschlagen und neu zusammengesetzt, er hat die Sinnbehauptung von Sprache mit einer Lust vorgeführt, dass allein der Gedanke an so manchen Fritsch-Abend ausreicht, um in lautes Gelächter auszubrechen, und er hat schließlich aus dem Urnarrativ menschlicher Angst und Unterwürfigkeit keine grellbunte Shownummer gemacht. Da bleibt nicht mehr viel übrig, nicht an diesem Haus. Ein Abschied vielleicht, von diesem seltsamen Alchimisten-Labor, diesem Schutz- und Schmutzraum, dieser Enklave des Irr- und Wahn- und Unsinns. Ein letztes „Tschüß!

Bild: Sascha Krieger
Bild: Sascha Krieger

Das gibt es auch am Ende: Einzeln treten die dreizehn Darsteller*innen an die Rampe, winken ins Publikum und sagen „Tschüß!“ (was nicht jedem gelingt, auch an diesem einfachen Sinngeber ist die Fritsch-Zertrümmerung nicht spurlos vorbeigegangen). Dann hebt der Applaus an und der eiserne Vorhang fährt. Herunter. Vorbei, aus, die Trennung ist komplett, der Zauber vorbei. Doch zuvor gibt es noch ein Da Capo, 90 Minuten pures Theaterglück, ohne Sinn, ohne Ziel, ohne Bedauern. Theater? Vielleicht auch eine Installation, irgendwo zwischen Dada und Minimalismus, ein Fest der Wiederholung, der Stagnation des Nichts-Passierens. Kernstück ist eine Art Konzert. Zehn Klaviere, alt und angeschlagen, dreizehn Darsteller*innen, geisterhaft geschminkt, in bunten Kleidchen und opulenten Perücken, die Münder aufgerissen in einem Dauergrinsen. Behauptung zunächst, doch später auch so etwas wie Ausdruck echter Ekstase. Sie hämmern auf ihr Klavier ein, immer der gleiche Ton, ein eintöniges Dauerstakkato. Später wechseln die Noten, fächerst sich der Rhythmus auf, doch das grundlegende Stampfen bleibt. Und doch passiert hier was. Nein, weniger in den Brüchen und Unterbrechnungen, etwa wenn sich die Dreizehn zu einer Art absurdem Square Dance aufstellen und den Rhythmus mit den Füßen stampfen. Das Geschehen ereignet sich an den Klaviere. Ein rauschhaften Anschwellen der Energie, wie in einem zunehmend selbstvergessenen Ritual. Immer wieder schreit jemand verzückt. „Schön“ schreibt eine auf das große schwarze Rohr im Hintergrund. Und ja, schön ist, das, ein wortloser, kollektiver und doch irgendwie individueller Schrei. Freude? Schmerz? Leben? Irgendwie all das und doch auch nicht.

Fritschs Theaterkondensationen sind absurd, grotesk, albern. Doch meist beziehen sie sich auf etwas, haben sei eine Folie, an der sie sich auf irgendeine weise abarbeiten. Pfusch  ist, was passiert, wenn Herbert Fritsch sich die Folie entzieht, die Behauptung von Sinn verweigert, die sich dann zertrümmern ließe. Der Abend ist ein schriller Verwandter von Christoph-Marthalers Volksbühnen-Abschied, eine Erinnerung an sich selbst. Aber auch eine Affirmation: an die Kraft der Kunst, des Theaters, dem die Atemluft entzogen werden kann und das doch weiterlebt. Weil es selbst Sauerstoff produziert, Atemluft ist, essenziell, (Über-)Lebensmittel. Also rollt man unendlich lang die Röhre hin und her, schaut in dieselbe, rezitiert sinnentleerte Sentenzen und Film(?)-Zitate, die rat- und ziellose im Raum stehen, verloren ins Publikum schauen wie die scheuen Gestalten zu Beginn. Ein Geistertanz, auch das, doch wer tanzt und spielt und spukt da? Die Volksbühne? Die sinnbesessene Menschheit? Oder wir, die wir 90 Minuten unserer Lebenszeit hierfür, nun ja, opfern?

Und wer füllt die Vertiefung, die natürlich – wir sind bei Fritsch! – ein Trampolin verbirgt als Schwimmbad der traurigen Gestalt mit blauen Schaumstoffwürfen, wagt sich aufs eilig gezimmerte Sprungbrett, das natürlich abbricht (was Wolfram Koch in metatheatraler Aufgebrachtheit wüten lässt: „Ich war mal der Don Karlos, du Arschloch!“), taucht in grotesken Posen in die imaginierten Fluten. Wie stets bei Fritsch – der vielleicht Becketts einzig würdiger Erbe ist – sehen wir hier Menschen (oder ihren verzerrten abbildern) beim Scheitern zu, lächerlichen Verlierern, albernen Absurditätsleugnern. Nie war der Abgrund so nah, nie das Lachen so wenig befreiend. Und doch, natürlich befreit es, auch wenn die Tränen gefährlich nahe kommen. Nicht von den Fesseln des Absurden, das wir nicht hinter uns lassen, wenn sich die Saaltüren öffnen. Aber vielleicht – und sei es nur für Minuten – von dem Zwang der Bedeutung, der Notwendigkleit, in allem Sinn zu finden, allem einen Zweck zu geben. Hier führt nichts weiter oder auf irgend etwas zu – die beiden riesigen roten Pfeile, die auf die Darsteller weisen, sind vielleicht der grausamste Scherz des Abends – hier nützt nichts niemandem. Doch was passiert, wenn der Sinn verschwunden ist? Was füllt seinen Raum, nimmt seinen Platz ein? Hier unterscheidet sich Fritsch von Beckett: Wo letzterer die Welt verschließt, öffnet Fritsch sie. Ja, sie ist leer, aber was leer ist, lässt sich füllen. Womit? Versuchen wir es mal mit Fantasie.

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