Lutz Hübner und Sarah Nemitz: Wunschkinder, Schauspielhaus Bochum (Kammerspiele) (Regie: Anselm Weber)
Von Sascha Krieger
Eine deutsche Familie anno 2016: Papa ist beruflich erfolgreich, pragmatisch, zielorientiert, ein Meister ironischer Distanz. Mama hat ihre Karriere auf Eis gelegt, um sich in übergriffiger Konsequenz um den Sohn zu kümmern. Die ist 19, hat sein (schlechtes) Abi in der Tasche und die neue Freundin geschwängert. Hinzu kommt eine verständnisvolle Tante als Vertrauensperson und Mittlerin sowie Familie zwei: depressive Mutter mit taffer, zielstrebiger Tochter, die denn auch das Paar männlicher Schhlaffi – selbstbewusste Frau komplettiert. Das Figurentableau und die Grundkonstellation von Wunschkinder, das Starautor Lutz Hübner gemeinsam mit seiner Frau Sarah Nemitz verfasst hat, die mittlerweile auch gleichberechtigte Co-Autorin sein darf – auch wenn das im Programmheft der Bochumer Uraufführung noch nicht angekommen zu sein scheint – ist von Subtilität weit entfernt. Stattdessen haben wir die übliche gehobene Mittelstandsfamilie samt Riesenegos, verwöhntem Kind und knallharter Erwartungshaltung an den – je nach Perspektive – Nachfolger, Stolzmacher und Sinngeber. Daneben dann das Prekariat mit gebrochener Elterngeneration (allein erziehend!) und erzwungener Stärke des – ihrem Mittelschicht-Pendant gegenüber natürlich viel lebenstüchtigeren – Nachwuchses.

Das klingt ähnlich schablonenhaft, wie es ist. Die „besseren Kreise“ verbergen ihren Egoismus hinter vorgeschobener Sorge und Unterstützung, die sich als väterliche Strenge oder mütterliche Fürsorglichkeit äußert und doch kaum bemäntelt, dass es dem Vater darum geht, Recht zu haben und den Sprössling in die Welt zu entsorgen und der Mutter, das Küken im Nest zu behalten und zu verhindern, ihrem Leben einen vom Muttersein unabhängigen Sinn zu verleihen. Die „andere Seite“ ist ähnlich stereotyp gezeichnet: die vom Leben geschlagene Mutter braucht die Tochter nicht minder als ihr finanziell besser gestelltes Gegenüber, auch wenn ihr Beweggrund eher Hilflosigkeit als Selbstsucht ist.. Die Elterngeneration stellt Ansprüche, fordert, klammert, erwartet, engt ein, die Jungen sind gefangen im elterlichen Anforderungskatalog. Selma ist die Familienmanagerin, stemmt Abendschule und zwei Jobs, ist zielstrebig und optimistisch. Marc dagegen ist das Emblem des Klischees seiner Generation: Unselbständig, weil verhätschelt und überbeschützt steht einer Welt gegenüber, deren Optionsvielfalt ihn ebenso überfordert wie die einander widersprechenden Anforderungen der Eltern. Ein Verlorener, für den die Freiheit, alles machen und sein zu können, zunehmend zur Belastung wird – ein „Schicksal, das er vielen Studien zufolge mit der Mehrheit seiner Generation teilt.
Die Baby-Krise führt denn auch zum Erwartbaren: Statt die werdenden Eltern zu unterstützen, ihnen den Weg zu den anstehenden existenziellen Entscheidungen zu ebnen, stürzen die Eltern durch ihre vielfältigen Interessen – der Vater will das „Problem“ so effizient lösen, wie er es im Beruf gewohnt ist, die Mutter möchte den Enkel als eigenes Kind, als Ersatz für den erwachsenen Sohn aufziehen – alles ins Chaos. Die Jungen bleiben allein. Selma sucht zunehmend panisch nach einer Lösung, während Marc abhaut. Am Ende hat sich alles von selbst gelöst, Selma und Marc sind getrennt, die Familien zerstört und doch macht jeder weiter wie gewohnt. Hübner und Nemitz, so etwas wie die deutschsprachigen Vertreter des „well-made Plays“ mögen keine Leerstellen, schätzen das Offene nicht. Bei ihnen ist alles ausbuchstabiert, jede Motivation biografisch oder aus dem Herkunftsmilieu hergeleitet. Es wird so lange psychologisiert, bis aus Glaubwürdigkeit abziehbildhafte Stereotype geworden sind.
Für Uraufführungsregisseur Anselm Weber bedeutet das eine klare Wahl: Er könnte zum Beispiel die Klischeeschraube weiter drehen und aus dem Stück eine überdrehte Klamotte machen, mit angenehm satirischen Ton und vielen herzlichen Lachern. Schauspielhaus-Intendant Weber wählt einen anderen Weg: Er versucht dem Text die Wirklichkeit zurückzugeben. Er zieht das Tempo an, setzt auf Realismus, lässt sein feines Ensemble die Figuren plastisch formen. Das gelingt Matthias Redlhammer als dauerironischem Vater und Katrin Linder als dauerangespannter und nur vordergründig herzlicher Klammermutter ebenso stark wie Sarah Grunerts verletzlich taffer Selma. Das Ereignis ist Maja Beckmann als Selmas Mutter Heidrun, deren sehnsüchtige Verlorenheit anrührt, ohne je um Mitleid zu betteln. Einzig Damir Avdic als Marc tut sich mit seiner Rolle etwas schwerer. Zu Beginn viel zu reflektiert, tastet er sich nur langsam ist die Hilflosigkeit seiner Generationsmetapher hinein.
Das Ergebnis ist ein überraschend stimmiger Abend, der dem Text und seiner geschwätzigen Erklärsucht so lange den Kampf ansagt, bis er so nahe an die Wirklichkeit, die er behauptet, herangerückt ist, wie es ihm möglich ist. Wann immer er sich in Platitüden zu vergangen droht, zwingt Weber ihn in die nächste Szene, so als wolle er den leitmotivischen Schlüsselsatz „Kannst du nicht einfach mal die Klappe halten?“, immer dann geäußert, wenn sich eine Figur ihrer Fremdbestimmung für einen Moment zu entledigen sucht, der Textvorlage ins Gesicht schleudern. Lydia Merkels Bühne ist ein leerer, leicht angeschrägter Möglichkeitsraum, den zu erklimmen immer ein wenig Mühe erfordern, auf dem man aber leicht, wenn auch nicht im Wortsinn, ins Rutschen gerät. Ein Experimentierfeld, auf dem es gilt, den richtigen Ton zu finden, den passenden Umgang – mit dem Anderen wie mit sich selbst. Eine Übung, die denn bei aller räumlichen Abstraktion näher an der Wirklichkeit ist als das Textkorsett. Und so verblüfft an diesem Abend vor allem die Leichtigkeit, die Selbstverständlichkeit, mit der er die sperrigen Familienabgründe verhandelt, erstaunt, wie natürlich er zwischen komödiantisch-satirischem Ton und stiller, beklemmender Berührung wechselt, seine Figuren ernster nimmt, als ihre Autoren es getan haben und sie nie an billige Effekte verrät. So wird Wunschkinder zum lebendigen Konversationsstück, unterhaltsam und schmerzlich. Dabei bleibt es natürlich analytisch an der Oberfläche – den Themen Generationenkonflikt und überforderte Jugend in einer postmodernen, globalisierten Welt, in der alles möglich scheint, und doch kaum mehr Halt zu finden ist, fügt er wenig hinzu. Doch taugt er als spannende Zustandsbeschreibung eines Gesellschafts- und Familienkostrukts, welches das Um-Sich-Kreisen zum Lebensinhalt gemacht hat. Intelligente Unterhaltung – wenig ist das nicht.
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