Mit netten Leuten Kuchen essen

Rimini Protokoll (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel): Hausbesuch Europa, Hebbel am Ufer, Berlin (Regie: Rimini Protokoll)

Von Sascha Krieger

Europa: Was einst für eine Idee stand, ist längst für zu viele zum Schimpfwort geworden, zum Synonym für Bürokratie, Intransparenz, Mauschelei, Abgehobenheit. Und doch ist die europäische Einigung, wie das Nobel-Komittee vor einigen Jahren völlig richtig festgestellt ghat, vor allem das erfolgreichste Friedensprojekt in der bewegten und blutigen Geschichte nicht nur dieses Kontinents. Europa durchaus auch in seiner Ambivalenz sucht- und vor allem spürbar zu machen, es auf die Ebene des Einzelnen herunterzubrechen, der mit Millionen anderer Einzelner dieses Europa erst möglich macht, die Idee Europas mit Leben zu füllen – positivem wie negativem – , haben sich Rimini Protokoll in ihrem neuesten Projekt Hausbesuch Europa verschrieben, das derzeit in Berlin seine Premiere feiert und in der Folge durch Europa reisen wird. Die Idee ist ebenso einfach wie wirkungsvoll: Hausbesuch Europas für in die Keimzelle dieses Kontinents, den privaten Raum überzeugter oder skeptischer Europäer. Schauplatz sind Privatwohnungen Freiwilliger, in denen sich bis zu 15 Teilnehmer um einen Tisch versammeln, der mit einer großen Europakarte bedeckt ist. Sie ist leer, doch wird es nicht lange bleiben. Gleich zu Beginn tragen die Teilnehmer Geburtsort, einen Ort, an dem sie lange gelebt haben und einen persönlichen Bedeutungsort ein und verbinden sie zu einem Dreieck, später kommen skizzierter Geschichten hinzu. Europa, so die Idee, lässt sich nur dann greifen, wenn es kein leeres Blatt ist, sondern eine Sammlung gelebter Leben, die plötzlich ungeahnt komplexe Verbindungsnetze hinterlassen.

Dann beginnt Hausbesuch Europa und das Korsett wird enger. Auch wenn dies ein für Rimini Protokoll ungewöhnlich partizipatives Projekt ist, bleibt die Kontrolle stets fest hin der Hand der Macher, vertreten durch einen freundlichen aber bestimmten Spielleiter. Fünf „Level“ werden durchlaufen, in denn es um die Gastgeber, die Teilnehmer, Abstimmungsmechaniken und die Fallstricke des Wettbewerbs gibt. Am Ende gibt es einen europäischen Kuchen zu verteilen – und es ist keineswegs sicher, dass jeder ein Stück abbekommt. Natürlich gibt es elektronische Unterstützung: durch einen Kasten, der auf einer Bon-Rolle Aufträge an die Mitspieler ausspuckt, und später durch keine Voting-Touchscreens, die an Gameshow-Apparaturen erinnern. So sind die zwei Stunden sorgfältig durchgeplant und beschränkt sich das Mitmachen der Teilnehmer aufs Ausführen von Aufträgen. Wer ausbricht, gehörte Geschichten hinterfragt oder zusätzliche Tragen stellt, wird schnell vom Spielleiter ausgebremst.

So bleiben vor allem die ersten beiden „Level“ recht blutleer, in denen es darum gehen soll, dass zunächst der jeweilige Gastgeber und später die restlichen Teilnehmer ihre persönlichen Bezüge zu Europa offenlegen, etwa in dem sie Geschichten zu den markierten Orten erzählen, sich in Abstimmungen zu ihrem sozialen und politischen Engagement oder ihrem Verhältnis zu eigenen Identität. Per Mehrheitsbeschluss in der Form, dass jeder auf einen der anderen Mitspieler zeigt, wird entschieden, von wem man zu den jeweiligen Punkten mehr zur per Handzeichen gegebenen Antwort erfahren will. Das kann recht spannend sein, etwas wenn bei der Frage, wer von den Teilnehmern schon einmal seine Nationalität verleugnet habe, die Mehrzahl der Hände hochgehen und – wie in der hier besuchten Aufführung – ein Israeli von Begegnungen erzählt, in denen er sich aus Antisemitismusangst als Spanier ausgab. Es sind Momente wie diese, wenn die freundliche Atmosphäre plötzlich in beklemmende Stille kippt, die stärker im gGedächtnis bleiben, als die etwas plumpen didaktischen Einwürfe, der Marke „An einem Tisch wie diesem wird den die Pariser Verträge unterschrieben.“

Doch Zeit, die Realität des mit sich selbst bis heute ringenden Konstrukts Europa auf sich wirken zu lassen, bleibt nicht, weiter geht es zum nächsten Auftrag, bei denen sich das Ernste und das Leichte in etwa die Waage halten. Die Verstörung, die etwa ein Projekt wie Situation Rooms auszulösen vermag, stellt sich nicht ein. Hat man sich an das Grundprinzip einmal gewöhnt, sind die meisten Teilnehmer nur zu gern bereits, sich von der netten Runde einlullen zu lassen und zurückzulehnen. Dabei sind insbesondere die späteren „Level“ interessant, in denen abgestimmt wird, das eigene Abstimmungsverhalten später Konsequenzen hat, zunächst bei der Bildung von Teams im finalen Wettbewerb, in den das alles mündet, später bei der Aufteilung des Kuchens. Die Mechanismen, mit denen aus der eigenen Überzeugung taktisches Verhalten wird und die Gedankengänge, die sich entwickeln, wenn es plötzlich ums Gewinnen geht, sind durchaus lehrreich zu beobachten, nur geht diese Ebene schnell verloren in der Lockerheit des Geschehen, dem spielerischen Charakter des Ganzen, der seinen Ernst leicht verbergen kann, der freundlichen Atmosphäre des Beisammenseins. Am Ende dieser spezifischen Zusammenkunft wird dann auch die vorgeschlagene Kuchenaufteilung ignoriert, jeder bekommt ein gleich großes Stück. das mag gelebte Utopie sein oder bloße Höflichkeit. Die im Anschluss entstehenden Gespräche sind denn auch um einiges erhellender als dieses überraschend harmlose Projekt selbst.

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