„Also tanzen wir“

Sivan Ben Yishai: Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert, Deutsches Theater (Kammer), Berlin (Regie: Anica Tomić)

Von Sascha Krieger

Es hat etwas Geisterhaftes, dieses Haus, das laut Text der protagonist dieses Stücks ist, wie es sich zu Beginn aus dem Nebel schält, wie es immer wieder im bräunlich goldenen Zwielicht halb verschwindet, wie sich in ihm Endlosschleifen, Wiederholungen, Zeitraffer abspielen (Bühne: Mila Mazić). Ein Haus zwischen oder außerhalb der Zeit, ein Ort des Stillstands, der Erinnerung, des Weiter-so. Wirklich drin sind nur die Besitzer, die Helmers, bekannt aus Henrik Ibsens Nora. Ein Puppenhaus, seit 140 Jahren eine vermeintliche Ikone feministischer Emanzipation. In Sivan Ben Yishais Stoffbefragung ist jedoch gerade Noras Position fragwürdig. Sie ist Teil des Hauses – um das es, wie wir wiederholt hören – hier ginge und damit des patriarchalen kapitalistischen Systems, das die Spielregeln setzt für Selbstbestimmung und individuelle Befreiung. Im Pelzmantel gibt sie (Anja Schneider) Anweisungen, schüchtert ein, umgarnt, droht.

Bild: Jasmin Schuller

Draußen stehen die Anderen, im Rollenverzeichnis Hausmädchen, kindermädchen, „Ein Paketbote“ oder gar nicht genannt. Ihnen gilt der Blick dieses Abends, ihrer Geschichts- und Namenlosigkeit, ihrer Abhängigkeit, ihrer Unmöglichkeit der Emanzipation. Sie weisen auf die Diskrepanz der Möglichkeiten hin, etwa die trocken desillusionierte Klarsichtigkeit des Kindermädchens Anne-Marie (Steffi Krautz). Wie Nora verließ auch sie ihre Kinder, jedoch nicht, um sich zu befreien, sondern um sich und ihnen die Existenz zu sichern. Sie hat die Option des Ausbruchs nicht, das Zerbrechen ihrer Familie war in der Rezeptions- und Aufführungsgeschichte nie ein Skandal, es ist selbstverständlich, ein Preis dafür, die Dinge am Laufen zu halten.

Anica Tomić bietet ihren Figuren den Raum, den sie brauchen – denen, die ihn immer schon hatten und den vergessenen, übersehenen, zum Schweigen gebrachten ebenso. Er schafft Augenhöhe, wo das „Haus“ diese nicht ermöglicht. Rr zeigt die Wirkung der Machtmechanismen, etwa wenn Nora eine kleine Bitte des Mannes, für den „Ein Paketbote“ einziger Name und Identität ist, auf erschreckende Weise eskaliert, um ein für alle Mal klarzustellen, wer hier das Sagen hat. Und das ist auch sie nur bedingt. Einmal wird aufgelistet, wie oft die Namen der Eheleute im Rollenverzeichnis auftauchen: der ihrer Mannes sechsmal, ihr eigener – der der Hauptfigur also – ein einziges Mal. Hier Verlassensmonolog bekommt ausreichend Bühne und auch zwischendurch erkennt Nora immer wieder ihr eigenes Gefangensein im System. Ihre Tragik als bürgerliche Feministin ist, dass sie das, was sie für sich wahrnimmt und kritisiert, für andere außerhalb ihrer sozialen Sphäre nicht nicht, ja, nicht einmal akzeptiert, dass die regeln, die sie für sich einfordert, auch anderen offen stehen sollten.

Ben Yishai und Tomić machen nicht den Fehler, Nora darüber zu verdammen. So sehr sie sich in Selbstbetrug, Machtrauch und Grausamkeit verfängt, so klar ist sie nie nur Täterin sondern ebenso Opfer, die Umkrempelung des Stoffes Erweiterung, nicht Gegenrede. Sie fügt Kontext hinzu, erweitert den Horizont, prangert Ungleichbehandlung und Unrecht an, ohne Noras Emanzipation zu verunglimpfen. Tomićs Regie gibt dem Text Leben, Leidenschaft, Ernsthaftigkeit wie satirische Schärfe, erschütternde Tragik wie lächerliche Überzeichnung. Und wirft eben keine Figur vor den Bus. selbst Jörg Poses helmer ist schlimmstenfalls ein armseliges Würstchen, das sich im System gefangen sieht, dieses hilflos aufrechtzuerhalten sucht und nahe dran ist, die eigene Lächerlichkeit zu erkennen. er spielt kaum eine Rolle, ist wiederholt überfordert, eine Verkörperung des Überkommenen.

Denn diese Geschichte ist nicht nur die der Handlung eines Stücks, sie trägt Inszenierungs- und Rezeptionshistorie in sich. Diese Nora ist alle Noras, diese Anne-Marie alle „Kindermädchen“, die auftretenden wie die gestrichenen. Vergessene Protagonist*innen in prekärer Lage – im Stück wie in der öffentlichen Wahrnehmung – angewiesen auf das Wohlwollen, derer mit Macht. Wenn am Ende das Haus zerlegt wird und seine Reste verschwinden, wenn Natali Seelig den Text hinter sich lässt und nach den letzten Worten „Also tanzen wir“ einen Tanz auf den Gräbern des Patriarchats beginnt, dann ist das ein emanzipatorischer Akt, der den Noras nicht entwertet, sondern ihn weiterführt und vervollständigt, seinen Opfern Gerechtigkeit gibt. Ein Tanz der Hoffnung, des Abschüttelns, des Beharrens am Ende eines lustvollen, klarsichtigen, befreienden Abends.

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