Die Macht des Namens

Theatertreffen 2021 – Marie Schleef: NAME HER. Eine Suche nach den Frauen+, Ballhaus Ost, Berlin / Münchner Kammerspiele / Kosmos Theater, Wien – Aufzeichnung (Regie: Marie Schleef)

Von Sascha Krieger

Ein Schlüsselmoment dieses Abends findet sich bereits im ersten Viertel: Da befasst sich Anne Tismer gerade mit der Barock-Komponistin Francesca Caccini. Soeben hat sie die Besonderheiten ihrer Musik skizziert, da lädt sie zur Hörprobe: „Das wollen wir uns mal eben anhören.“ Andächtig lauscht sie – der Stille. Denn die Werke Caccinis sind verschollen, die Italienerin eine Leerstelle der Musikgeschichte. Damit ist sie exemplarisch für das, worum es in diesen knapp sechs Stunden geht: die Frau als Leerstelle der Geschichte, der Geschichtsschreibung, Begriffe, die ironischerweise grammatisch weiblich sind – in der Praxis dagegen männlich. Männer schreiben und forschen über Männer, der männliche Blick bestimmt die kollektive Weltsicht, der Frau kommt dabei kaum mehr als eine Nebenrolle zu. Diesen weiblichen Blick einzubringen hat sich die Theatermacherin Marie Schleef auf die Fahnen geschrieben – und das tut sie nirgends so konsequent wie an diesem Abend.

Bild: Hendrik Lietmann

In vier jeweils etwa 90-minütigen Abschnitten macht sie weibliche Geschichten hör- und sichtbar. Besondere Frauen und ganz „einfache“. Frauen, die aus der Geschichte herausgeschrieben, -geschwiegen, -verdrängt wurden. Frauen wie Rosalind Franklin, die Entdeckering der DNA-Struktur. Oder Sister Rosetta Tharpe, die Tismer als „Erfinderin des Rock ’n Roll“ bezeichnet. Es sind Forscherinnen, Aktivistinnen, Künstlerinnen, Sportlerinnen – aber auch Frauen wie die Schwedin Danuta Danielsson, die 1985 einem Neonazi die Handtasche auf den Kopf schlug, wovon es ein berühmtes Foto gibt. Oder die russische Atom-U-Boot-Ingenieurin, die bei einer Jungfernfahrt die Crew vor das Problem fehlender Damentoiletten stellte. Oder Camille Schrier, eine 24-jährige Chemikerin, die Miss America geworden ist, um zu beweisen, dass auch Intelligenz schön sein kann. Eine Frau war hier hier nicht vorgesehen. So wie auch in der männlich dominierten Geschichte. Die sich auch im „Matilda-Effekt“ manifestiert, der besagt, dass Errungenschaften von Frauen oft Männern zuerkannt werden, weil der gesellschaftliche Konsens ihnen diese Leistungen nicht zutraut.

An einer zeitgenössischen Ikonografie der Frau versuchen sich Schleef, Tismer und Bühnenbildnerin Jule Saworski, die einen Triptychon gebaut hat, erinnernt an drei Smartphone-Screens, eine Mischung aus moderner Online-Ästhetik mit starkem Gaming-Einschlag und dezidierter Comic-Note und traditioneller Heiligen-Visualisierung. (In der Online-Fassung wird dieser Triptychon noch einmal gedoppelt und auch der Bildschirm dreigeteilt.) So ironisch, leicht und verspielt wie diese Bild-Kombination ist auch der Tonfall, den Tismer und das immer wieder einfallende Off-Lachen Schleefs bestimmen. Plopps wie von Champagner-Flaschen (die Geschichte der „Champagner-Witwen“ ist eine besonders amüsante) trennen die einzenen Geschichte, die in oft schneller Abfolge einander ablösen. Dabei stehen neben den Frauen selbst oft auch deren Spezialgebiete im Mittelpunkt, die Tismer mit zuweilen atemloser Lust referiert, detailverliebt bis zur Publikumsüberforderung, ein Zuviel an Information, wo zuvor ein Zuwenig war. Eine Annäherung an die Vergessenen über das, was geblieben ist, Forschungsergebnisse, Theorien, Werke, Einflüsse, Nachfolger*innen.

Dabei passt sich Tismer in Ton, Duktus und Ausdrucksmitteln ihren Themen und Subjekten an, tanzt, wo es um Tänzerinnen geht, übt sich in Samuraitechniken oder erzählt die Geschichte der deutschen Asterix-Übersetzerin Gudrun Penndorf, die maßgeblich am Bucherfolg im deutschsprachigen Raum beteiligt war und sich gegen die Übervorteilung durch männliche Verlags-Granden zur Wehr setzte, wie einen viel zu umständlich vorgetragenen Witz. Immer wieder gibt es Triptycha, Dreierblöcke, der Mode, der Paläoontologie oder der Mathematik, die andeuten, wie reich die weibliche Tradition ist, wie wenig es um Ausnahmen geht. Und beschreibt, wie sehr der männliche Diskurs gerade diesen Ausnahmestatus instrumentalisiert, etwa wenn sie mit der Kunsthistorikerin Isabelle Graw die Bedeutung des Konzepts der „Ausnahmekünstlerin“ seziert, das es erlaubt, stets nur eine Künstlerin pro Generation in den Blick zu nehmen und die männlich dominierte Kunstszene damit zu stützen. Die Frau als seltener und bestenfalls tolerierter Gast.

Womit Schleef und Tismer schnell auch bei der Funktion der Namensgebung im patriarchalen System sind, vorgetragen am Beispiel der Benennung von Hurricanes, die, tragen sie Frauennamen, weniger ernstgenommen werden als jene, die männliche Namen tragen, weil erlernte sexistische Erwartungshaltungen dafür sorgen, dass Frauen – oder weibliche Namen – weniger ernst genommen werden. Stereotypen, die auch Sprachassistent*innen wie Siri beeinflusst, freundliche weibliche Stimmen, die männlichen Fragenden servil begegnen und ein wohliges Gefühl der Kontrolle lassen. Die Frau, die weibliche Stimme als Dienende. Beispiele, wie die männliche Weltsicht selbst Versuche sprachlicher Gerechtigkeit in ihr Gegenteil verkehren kann.

Da geht es leichtfüßig in den Überbau, jenseits der Aufzählung erzählwürdiger Frauengeschichten hin zur Benennung, zur Namensgebung oder eben -entziehung und -verweigerung als Machtinstrument, als Mittel der Aufrechterhaltung patriarchaler Diskurshochheit. So spielerisch, so tänzerisch augezwinkernd und doch hartnäcking, freundlich lächelnd und nicht nachlassend gräbt sich der Abend kaum merklich vor zum Essenziellen, zum Grundsätzlichen zum Kern, wie Geschichte geschrieben, Diskurs strukturiert, Realität benannt wird – und warum, von wem, mit welchen Folgen. Wobei der Blick auch dezidiert nicht eurozentrisch ist. Schleef und Tismer rücken etwa afrikanische oder südamerikanische Frauen in den Fokus – als Alternativen oder als Objekte kolonialistischer Pespektive. Marginalisierung, auch das will der Abend zeigen, ist nicht eindimensional, das Verdrängen und Verschweigen oft komplex.

Anne Tismer spricht und tanzt und spielt und ahmt nach und illustriert. Mit ihrem aufgekratzen Konversationston bringt sie Geschichten wie Zusammenhänge nahe und schafft zugleich dem Publikum genügend Distanz, genauer erkennen zu können. Es ist eine enzyklopädische Arbeit, eine Wissensflut, in ihrer Fülle überwältigend, aber voller Zugänge. Und auch Brüche, Verunsicherungen (auch negative Biographien werden nicht ausgespart), die immer wieder über die bloße Aufzählung hinausgehen, in die Tiefe weisen, ans Eingemachte gehen und am patriarchalen Kern gesellschaftlicher Verabredungen rütteln. „What’s in a name?“, lässt Shakenspeare seine Julia fragen. Viel, alles, sagen Marie Schleef und Anne Tismer und zeigt Jule Saworski. In sechs nie ermüdenden Stunden erschaffen sie ein Gegennarrativ und entlarven gleichzeitig das, dem sie entwas entgegenstellen. Theatral, vielschichtig, detailreich, gedankenscharf. Der anekdotische Ton verbirgt nicht die Untiefen dieses Terrains, im Gegenteil, es öffnet sie dem Blick. In den sichtbar Gemachten Verschwiegenen lauert der Abgrund. Namen, die Benennung sind der Abgrund und seine Lösung. Hier liegt der Kern dieses Augen öffnenden, unterhaltsamen und verunsichernden Abends.

Kommentar verfassen

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..