„Kein Recht auf Versöhnung“

Theatertreffen 2021 – Nach Jean-Luc Lagarce: Einfach das Ende der Welt, Schauspielhaus Zürich – Livestream (Regie: Christopher Rüping)

Von Sascha Krieger

Theater in der Corona-Zeit ist auch und zunächst einmal Selbstvergewisserung. Solange Spielende und Zuschauende zwar Zeit, aber nicht Raum teilen, ist erst einmal sicherzustellen, dass beide überhaupt da sind. Theater heißt auch auszuhalten, sagt Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, in sener Erffnungsrede des Theatertreffens. Sitzt das Publikum zuhause, ist es kein Problem, einfach auszuschalten, gilt diese Verabredung dann noch? Ist da noch jemand, zu dem man spricht? In der Eröffnungsinszenierung dieser erneut digital und damit irgendwie auch nicht stattfindenden Festivalausgabe blickt Benjamin Lillie erst einmal in die Kamera, sich zu vergewissern suchen, dass da auch jemand ist, nicht wissend, ob diesauch der Fall ist. Es ist ein Kern dieses Abends, den es zweimal gibt: als Publikumsversion – in Zürich dürfen bereits wieder jeweils 50 Zuschauende ins Theater – und als Livestream. Regisseur Christopher Rüping hat sich entschieden, beide zu trennen, sich zu fokussieren, zu wem man spricht und agiert, nicht so zu tun, als wäre das eine mit dem anderen zu verschmelzen. Digitales Theater ist nicht analoges – eine Erkenntnis, die auch nach über einem Jahr Pandemie noch nicht überall angekommen scheint.

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Bild: Diana Pfammatter

Zu diesem Abend passt die Trennung beider Sphären. Es geht um die Unmöglichkeit von Nähe, die Unfähigkeit einer (erneuten) Verbindung. Zur*m anderen, zur Vergangenheit, zu sich selbst. Die Geschichte des verlorenen Sohnes, der nach zwölf Jahren zurückkehrt, um der Familie von seinem bevorstehenden Tod zu berichten und dabei scheitert, ist eine der fehlschlagenden Annäherung, der sozialen Distanz. Sie ist, ja, auch eine Corona-Geschichte. Sie beginnt in Jonathan Merz‘ grandiosem Bühnenbild, dem in Rauminseln fragmentierten Elternhaus. Die Räume detailgetreu, alles an seinem Platz bis zur Topf voller Tomatensauce auf dem Herd. Eine halbe Stunde lang wandert Lillie durch den Raum, filmt ihn, eingefangen im engen Rechteck selektiver Erinnerung, filmt Eigenes und Fremdes, engefrorene Leben, die, begleitet von Matze Pröllochs anspielungsreicher Begleitmusik, zu einer sentimentalen Annäherung an eine Realität werden, die mehr imaginiert als jemals real gewesen scheint. Dann wird diese Fake-Wirklichkeit demoniert – im Wortsinn: Bühnenarbeiter*innen nehmen das Bühnenbild in einer etwa 15-minütigen Pause auseinander und deponieren die Teile an den Bühnenwänden. Mit der Wirklichkeit, mit dem. was zählt, haben Toffiffee und Zeichnungen des ersten Frendes nichts zu tun.

Für den Benjamin, den der geleichnamige Darsteller spielt, bleibt das schwer zu verdauen. So wie er die Vergangenheit selbst geformt hat, will er es auch mit der Gegenwart tun. Doch das funktioniert von Beginn an nicht. Lillie geriert sich als Regisseur der Szene, hält immer wieder mit seiner Kamera drauf, während die andere, jene für den Stream, ein einzelnes subjektives Auge, ein veritabler Zuschauenden-Ersatz, der diesen jedoch die freie Entscheidung über die Perspektive vorenthält, die Szenerie umkreist. Zuweilen tun die anderen Figuren., was er ihnen vorgibt, doch die Kontrolle, um die es ihm geht, entgleitet schnell. Zu Beginn des zweiten Teils, als die Familie, zu der er zurückkehrt, endlich auftaucht, findet Rüping ein starkes Bild für die Distanz, welche die*der Zuschauende im riesingen Schiffbau des Zürcher Schauspielhauses sofort spüren wird: Er lässt die Interaltion aus Lillies perspektive filmen. So kommen die anderen aus großer Distanz langsam näher und bleiben doch entfernt. Sie leben in untersciedlichen Welten, räumlich und vielleicht auch zeitlich.

Woran die Begegnung scheitert, ist letzt ihre internalisierte Unmöglichkeit, resultierend im Unwillen der Figuren, allen voran Benjamin. Er will die Montrolle, die eigenenen Bilder, die eigenen Vorstellungen durchsetzen. Er interessiert sich nicht wirklich für die anderen und sie geben ihre Versuche ebenso bald auf. So bleibt ein Umeinanderkreisen, ein sich immer wieder Abstoßen, eine Gleichzeitigkeit (vielleicht) in getrennten Rääumen. Die Sphären kommen nicht zu einender, wie das Publikum in der Pandemie nicht zur Bühne kommt. Doch dieses Social Distancing inst größer, grundsätzlicher. Jede*r ist in sich gefangen, den eigenen Bildern und Erwartungen, ein ausbrechen aus selbigen scheint unmöglich. Am berührendsten zeigen das vielleicht Maja Beckmann als Schwägerin, deren Abschied ein herzzerreißender monologisierter Dialog ohne Partner*in ist, und Ulrike Krumbiegel als Mutter, die gegen Ende unbeachtet in einer Ecke sitzt und die Vorwürfe ihres Lebens ins Nichts murmelt, während Benjamins Geschwister (Wiebke Mollenhauer und Nils Kahnwald) für kurze Zeit Besitz von der Kamera ergreifen und ihre eigene Geschichte versuchen, was Benjamin natürlich nicht hinnehmen kann.

Was in Jean-Luc Lagarces Stück und Xavier Dolans Filmadaption ein Konflikt zwischen ländlicher und städtischer, geschlossener und offener Gesellschaft ist, mutiert bei Rüping zu einer sehr viel weniger klar zu definierenden Spaltung. Gerade Kahnwalds Bruder ist nicht der tumbe hasserfüllte Gegenspieler, das verbitterte Frustbündel, der Vorlage. Er ist ebenbürtig, ja dem intellektuellen Benjamin beinahe überlegen in seiner Klarsicht, seiner Akzeptanz der unwiderbringlich verlorenen Nähe. Wenn Rüping vom Stück abweicht, indem er Benjamin am Ende sein Geheimnis verraten lässt, hat das nicht die erwünscht Wirkung, sondern erschüttert noch mehr als das Nichtgesagte des Originals. „Na und?“, fragt der Bruder kühl und verständnislos.“Was ändert das?“ Dann folgt der schmerzvollste Satz des Abends: „Du hast kein Recht auf Versöhnung, nur weil du stirbst.“

Rüping entpolitisiert das Stück und macht es gerade dadurch politischer. Denn es erzählt von einer großen Spaltung, einer Vereinzelung, die spätkapitalistisch zu nennen nicht falsch ist, weil disie Marktgesetzen unterworfen ist. Es ist ein Wettbewerb, um Aufmerksamkeit, Zeit, Raum, Scheinwerferlicht, ein Gegeneinander ohne erkennbare Trennlinien. Die Mauer ist unsichtbar und sie ist absolut. Empathie ist keine Währung hier, sie ist nicht käuflich, nicht einzufordern. Gerade der brachiale Bruder, der die Versöhnung, die hier nichts ist als eine Transaktion, ein Machtinstrument, verweigert, der die aggressive Aufforderung zur Umarmung ausschlägt, weil er Benjamin nicht mehr die Kontrolle überlassen will über die Bilder, über die Erwartungen und Rollen, ist der Empathie fähig. Aber entzieht sie dem Markt, er lässt sie im Privaten, jenseits der Zuschreibungen und gesellschaftlichen Vorgaben. Der Jüngere kann diesen nicht entfliehen. Er bekommt sein Schlussbild, aber es bleibt leer. Das Rot, in welches die Bühne am Schluss getaucht ist, ist eine Alarmfarbe. Doch Hilfe bleibt aus, Distanz ist die einzige Realität. Auch ohne Corona.

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