Die Welt ist eine Scheibe

Nach Fjodor M. Dostojewski: Die Spieler, Théâtre National du Luxembourg / Ruhrfestspiele Recklinghausen / Staatsschauspiel Hannover (Regie: Frank Hoffmann) – Gastspiel am Deutschen Theater, Berlin

Von Sascha Krieger

Die Erde mag keine Scheibe sein, die Welt in Frank Hoffmanns letzter Inszenierung als Intendant der Ruhrfestspiele, ist es. eine schwarze, denn Gutes kommt hier nicht heraus, wenn sie sich drehr, die Roulettescheibe ge- und verspielter Leben. Wobei sie zunächst still steht. Die Spieler*innen – im doppelten Sinne – sind im Publikum verteilt oder kommen – Fußballmetapher! – aus der Tiefe des Raums. Sie sprechen über die Hinrichtung eines jungen Mannes in Paris, streiten über die Deutungshoheit und die Bedeutung persönlicher, unmittelbarer Erfahrung im Vergleich zu literarischer, reflektierter Verarbeitung. Das Leben ist nah und zugleich weit entfernt. Man bettelt das Publikum an um ein paar Münzen, hält Zuschauer*innen Ikonenbildchen ins Gesicht, sucht im Auditorium nach Heiratsmaterial, fleht stummen Blickes um Hilfe und/oder Erlösung. Diese Gestalten, kostümiert zischen billigem Traumbild pseudorussischer Klischeevorstellungen und Fundus-Resterampe, ein modisches Nirgendwo, passend zur fehlenden Verwurzelung dieser Gestalten, bewegen sich unter uns, aber dazu gehören sie nicht.

Der bankrotte General, die verzweifelt klamme Stieftochter, der verwirrt verliebte Hauslehrer, die Goldsucher, die nach der erwarteten Erbschaft der siechen Tante im fernen Petersburg gieren – Hoffmanns großartiges Ensemble erfüllt sie mit so viel Leben, wie es diese untoten Figuren zulassen. Seine Dostojewski-Adaption ist Schauspieler*innen-Theater im besseren Sinn, bei dem Ulrich Genauers wütend rast- und hilfloser Hausloser Alexej und Jacqueline Macaulays zunehmend auseinanderfallende verzweifelt lebenssuchende Polina besonders herausstechen. Es übersetzt die Verzweiflung Entwurzelter, aus der Gesellschaft fallender, selbstbetrügerischer Mitspieler in Gestik, Handlung, Mimik, in das nachvollziehbare Vokabular von Menschen, die sich selbst zum Spielball fremder Kontrolle, eines als letzten Ausweg begriffenen „Glücks“ reduzieren (lassen). Der Abend zeichnet diese Entwicklung wirkungsvoll nach: Wie die vermeintlich Unabhängigen sich langsam aber sicher in Richtung Spielscheibe bewegen, dort auf die quicklebendige Erbtante, gespielt vom wie immer großartigen Wolfram Koch, treffen, sich das schwarze Loch in Bewegung setzt, um sie im Spielrausch zu verschlingen – das entwickelt einen Sog, der den unausweichlichen Niedergang sich Aufgebender, sich in Illusionen verfangender Gestriger nicht nur sicht-, sondern auch fühl-, ja, fast greifbar macht. Auch wie die Tante, ab Ende nackt bis auf die Unterwäsche, sich selbst fangen lässt, der Reichtum sich als trügerisch erweist, weil er eben „nur“ Geld ist.

Wie diese Entseelten um so etwas wie Seele ringen und sie gleichzeitig abzustoßen versuchen, weil sie sie vermeintlich nur weiter in den Abgrund reißt, was wiederum ihre Hoffnungslosigkeit besiegelt, wie sie am Schluss wie paralysiert auf der Scheibe verbleiben, nicht mehr vor können und nicht zurück – das geht nahe. Dass der abend trotzdem nicht ganz geglückt ist, liegt daran, dass Hoffmann seiner wichtigsten Vorlage, Dostojewskis Roman Der Spieler, selbst entstanden, um eine finanzielle Notlage, auch aufgrund von Spielschulden, zu lindern, offenbar nicht ganz traut. Und so fügt er Elemente aus einem anderen der unerbittlichen Kurzromane des Autors, seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund, hinzu, gesellt den dortigen Ex-Beamten in Person von Marco Lorenzini als Unterschicht-Äquivalent der verarmten Oberklasse hinzu. Doch, so wie er verzweifelt wütet, um sich schlägt, zynisch tritt, bleibt er Fremdkörper, ist er wenig mehr als plakative Aussageverstärkung, wo es eine solche nicht brauchte. Seine Hinzufügung abstrahiert das Konkrete, distanziert das unmittelbare, dreht das körperlich wie psychisch Nachvollziehbare ins thesenhafte. Wäre der Abend auf der Roulettescheibe verblieben, im Spiel, das einmal ein Leben hätte sein sollen, es berührte noch stärker und hinterließe keinen etwas schalen Beigeschmack. Ein starker Abschied aus Recklinghausen war die Arbeit aber allemal.

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