Abfahrt ins Belanglose

Autorentheatertage 2019 – Elfriede Jelinek: Schnee Weiss (Die Erfindung der alten Leier), Schauspiel Köln (Regie: Stefan Bachmann)

Von Sascha Krieger

2018 war ein Jahr, das den österreichischen Skisport zu erschüttern schien. Zum Teil Jahrzehnte zurückreichende Missbrauchsfälle kamen ans Tageslicht, eine „Kultur“ systemischer sexueller Gewalt insbesondere gegenüber jungen Sportlerinnen, patriarchale Machtmanifestationen, in die auch große Namen involviert waren. Das Heiligste des österreichischen Sports schien erschüttert. Doch nicht lange, die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Dementi, gegenteilige Zeug*innenaussagen, das übliche Dauerlamento des „Ich habe nichts gesehen und gehört“ mit einer reichlichen Dosis „Warum haben sie denn nichts“ gesagt überschwemmte die Debatte und verhinderte schnell jegliche ernsthafte Auseinandersetzung. Was zu einem Nachdenken über die immanente Gewalt männlich geprägter und definierter Machtstrukturen hätte führen können und sollen, verzwergte zu einem „She said, they said“. Wer dachte, die alten Macht- und Diskursverhältnisse wären in der Folge der MeToo-Bewegung ins Wanken geraten, dem rief Österreich zu: Aber nicht bei uns!“

Bild: Tommy Hetzel

Dass Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek die Ereignisse verarbeiten würde, war zu erwarten – wie sie es tat, erstaunt dann aber doch. Dass sie in ihren Texten von realen Vorkommnissen ausgehend sich in komplexe, universelle, mitunter auf den ersten Blick abseitig erscheinende Themen hinein assoziiert, kennt man – doch so gründlich, mit so weitem Blick, so allumfassend und zugleich so ambivalent wie hier tut sie das selten. Dabei bedient sie sich einer ganzen Reihe literarischer Folien: Zu nennen sind sicher Oskar Panizzas Das Liebeskonzil von 1984, die Geschichte einer 14-Jährigen, die unter tätiger Mithilfe der Mutter von einem Schulleiter missbraucht wurde und daran starb, was dem Autor eine Haftstrafe wegen Blasphemie einbrachte. Hinzu kommen Friedrich Nietzsches Betrachtungen zur Moralphilophie, Sigmund Freuds Fetischismus-Thesen, Marie Bonapartes Über die Symbolik der Kopftrophäen sei allerlei Antikes und Bliblisches aus beiden Testamenten. Aus gehend von einer Missbrauchsunkultur im Österreichischen Skiverband legt Jelinek eine jahrtausendalte Geschichte systematischer misogyner Unterdrückung und Ausbeutung frei und dar, wandelt auf den Planken katholischer Missbrauchsskandale bis zurück zur patriarchalen Ausrichtung jener Texte, welche die so genannte abendländische Kultur  begründeten.

Mit zahlreichen Exkursen und Umwegen, die auf den ersten Blick kaum zum vermeintlichen Hauptthema des Stücks passen wollen. Die Fetischismustheorien und die Ausflüge zur mythisch-religiös esoterischen Überhöhung des menschlichen Kopfes als einer Art Über-Fetisch scheinen separat zu stehen, wegzufühhren von der relativen Eindeutigkeit der faministischen Bestandsaufnahme. Sie leiten hin zu einer universellen Unwucht im menschlichen Verhältnis zum Körper, seiner Fetischisierung oder Abtrennung, seiner Überhöhung oder Verleugnung, in jedem Fall dem Ausweichen seiner Realität. Phänomene, die ebenfalls mit der auch von Nietzsche analysierten christlich-jüdisch geprägten, aber schon in der Antike angelegten, stets sexualisiert zu denkenden „abendländischen Moral“ zusammen hängen. Um die Frau zu unterdrücken, muss sie sexualisiert werden und dazu muss der menschliche Körper als sündig, als nicht alltäglich, als symbolisch aufgeladen markiert werden. Das produziert in erster Linie Opfer – vom kopflosen Täufer und gekreuzigten Messias bis zur missbrauchten Skifahrerin – und, so weit wagt es Jelineks Text zu gehen, womöglich sogar den Tätern in ihrer Gewissheit, sich jahrtausendealter Moralvorstellungen nicht entzogen zu haben. So endet, was als vermeintlich feministische Analyse begann, in einer verunsicherten, ambivalenten, alles andere als schwarz-weißen Bestandsaufnahme menschlicher Moralgeschichte. Bei der ein Mord, der vielleicht auch ein Missbrauch ist, am Ende steht: das Attentat an Kim Jong Nam, dem Halbbruder des nordkoreanischen Diktators, ausgeführt von zwei Frauen, die anschließend aussagten, nicht gewusst zu haben, dass sie einen Mordanschlag ausführten. Die Verwirrung geht weiter.

Nicht jedoch in Stefan Bachmanns Kölner Uraufführungsinszenierung. Wo Jelinek Widersprüche sät und Unübersichtlichkeit pflanzt, zieht sich der regieführende Intendant auf plakatives Illustrieren zurück. Deutet Jana Findeklees und Joki Tewes‘ Bühne noch einen Eisberg mit abgeschnittener Spitze – jene, die der österreichische Skandal darstellt? – an, die im Namen des Business as usual sofort wieder zur Skipiste wird, ist bei Bachmann immer alles Sonnenklar. Sexueller Missbrauch wird mit Kopulations-Pantomimen abgefrühstückt, Jesus mit Skiern gekreuzigt – und damit klar wird, dass es um misogyne Gewalt geht, trägt er Hängebrüste, ist von Engeln die rede, erscheint eine riesige Putte, die heilige Kuh des österreichischen Skisports erscheint als selbige, Gott, bei Jelinek ein gelangweilt seniler alter Mann, der gleichzeitig Skiverbandspräsident ist, erscheint im Rollstuhl. Aufgeregt und hektisch geht es zu, Jelineks Text wird ausgespuckt, hastisch zerhäckselt, plakativ rezitiert, aber nie gespielt. Das Bühnengeschehen ist skizzierte Illustration, eindeutig, oberflächlich, nie überraschend. Aus dem Textgewebe wird nie ein dramatisches. Wenngleich recht stark gekürzt, folgt Backmann dem Text sklavisch und einfallsarm. Das Assoziationsgewirr mutiert bei ihm zu einer linearen Abfolge episodischer Diskursfragmente, die so natürlich kaum Zusammenhang herzustellen vermögen.

Und so verliert der Abend früh seine Zuschauer*innen und potenziellen Mitdenker*innen. Wie eine aufwändige szenische Lesung spult er den Text ab, ohne ihm dramatisch etwas abzugewinnen – oder dies auch nur zu wollen. Das Ergebnis ist Beliebigkeit: Die seidenen, fragilen Fäden, die das Disparate in Jelineks Vorlage zu verbinden suchen, fehlen gänzlich. Da kann sich das exzellente ensemble noch so mühen: Die giftig drastische Sabine Waibel oder die vielfarbig schillernde Ungreifbarkeit einer Lola Klamroth etwa, die schweizerisch eingefärbte Larmoyanz von Margot Gödrös‘ Rollstuhl-Gott oder Peter Knaacks angeknacks angepisster Jesus vermögen es nicht, aus dem Rezitierten Theater zu machen, weil Stefan Bachmann jegliche Dramatisierung versagt. So bleibt Jelineks wahnwitzige Zeit- und Raum- und Gedankenreise blutleeres Papier, theaterferne Aufzählung, unverstandene Illustration. Kaum mag man bei all dieser aufwändigen und effekthascherischen Unambitioniertheit von einer Uraufführung sprechen. Eine, die dem Text gerecht wird oder gar versucht, ihn – wie es einer Uraufführung geziemt – zum theatralen Leben zu erwecken, ist zumindest nicht zu erleben. Eher eine Abfahrt ins Belanglose.

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