Eine Endlosschleife namens Leben

Nach Motiven des Dramas von Mario Salazar: Amir, Berliner Ensemble (Kleines Haus) (Regie: Nicole Oder)

Von Sascha Krieger

Die letzte Premiere an der temporären kleinen Spielstätte des Berliner Ensembles – zum Spielzeitbeginn 2019/20 wird endlich das „Neue Haus“ nach zwei Jahren Um- und Neubauzeit eröffnet – ist ein Beispiel dafür, wie aus Scheitern Triumph zu werden vermag. Denn der Abend ist lesbar als Offenbarungseid des Hauses, das unter der Intendanz Oliver Reeses als Autorentheater angetreten war. Doch bislang  war hier kaum neue deutschsprachige Dramatik zu erleben, selbst deutschsprachige Erstaufführungen sind eher Mangelware. Herzstück des „neuen BE“ sollte das Autorenprogramm sein. Doch der Leiter, Moritz Rinke, sprang ab, lange bevor die erste Produktion realisiert wurde und bringt seine eigenen Arbeiten lieber nebenan am DT heraus, das sich nicht nur mit den Autorentheatertagen längst im von Reese anvisierten Territorium breitgemacht hat. Erst ein hier im Rahmen des Programms entstandenes Stück landete bislang auf der Bühne. Die zweite Uraufführung dagegen ist keine: Mario Salazar hat ein langes, komplexes Stück über einen staatenlosen in Berlin gelandeten Geflüchteten und seine Familie geschrieben. Nicole Oder, erfahren in postmigrantischen Stoffen, hat wenig mehr als ein paar Figuren und Motive sowie den Namen genommen und einen ganz eigenen Abend daraus gemacht, der kaum ein Wort aus der Vorlage – die wie ein gedrucktes Eingeständnis des Scheiterns, den Zuschauer*innen mitgegeben wird.

Bild: JR Berliner Ensemble

Wenn es also eines Symbols für die Krise von Reeses zentraler Idee für sein Theater bedurft hätte, wäre Amir das perfekte. Doch weil das Theater eben auch ein Ort der Widersprüche ist, wird aus dem 90-minütigen Abend etwas gänzlich anderes: ein Ausweg vielleicht, eine Alternative, vor allem aber ein Aufbruch. Oder, ihr Ensemble und Bühnenbildnerin Franziska Bornkamm, machen aus Salazars Stoff das Porträt eines Lebens als Endlosschleife, als Wiederholung, als Nicht-vom-Fleck-Kommen. Das beginnt bei der Bühne: Eine massive Wand nimmt sie ein, drehbar, unüberwindlich. Gegen sie rennen die Figuren an und sie treibt sie vor sich her, stets im Kreis. Um sie herum trainieren sie an Sandsack und im Schattenboxen, rennen, bringen, kämpfen auf der Stelle. Im Hintergrund eine Art Büro: Darin sitzt Owen Peter Read als Ausländeramt-Mitarbeiter Herr Winter, der nichts anderes tut, als immer und immer und immer wieder die Duldung der Titelfigur, einem aus dem durch das berüchtigte Massaker bekannt gewordenen libanesischen Flüchtlingslager Sabra stammendem Palästinense, zu verlängern. Und so sitzt dieser Amir fest in seinem Leben, das keines ist, sondern ein Wartezustand, seine Welt eine Gefängniszelle.

Aus dieser heraus, in dieser erzählt er seine Geschichte, die wenig mehr ist als unsortierte Erinnerungssplitter, weil die Reihenfolge von Anfang, Mitte und Ende sinnlos ist, wenn es nie einen Anfang gibt. Burak Yigit ist Amir und spricht, nervös verkrampft mit dem und ins Nichts. Adressiert Unsichtbaere, die Brüder, die Schwester, die Freundin, den Wärter. Auch seine Opfer, denn Amir ist ein Schläger, ein Krimineller, ein Mörder vielleicht. Er, der keine Arbeit annehmen darf, sucht sich Betätigung, wo er sie finden kann: im Boxclub, auf der Straße, im Clan. Die Figuren treten hinzu und ab: der ältere Bruder (Tamer Arslan), der Amir ins kriminelle Milieu schiebt, um sich am Ende daraus zu verabschieden. Der jüngere, deutscher Staatsbürger, doch nicht weniger im Nirgendwo als die „geduldeten“ Brüder, naiver vielleicht und wütender noch, von Elwin Chalabianlou als Rapper zwischen Welthass und Verzweiflung gespielt. Die Schwester (Laura Balzer), talentierte Boxerin, deshalb eingebürgert, ein Lichtblick mit Schuldgefühlen. Und schließlich die Freundin (Nora Quest), eine Deutsche, mit der Amir kurze Momente des Glücks hat. Augenblicke des Stillstands, in denen das Anrennen und Getriebensein anhalten. Kurz nur. Pausen der illusionären Hoffnung.

Zu denen Bente Theuvsen, am linken Bühnenrand sitzend, live Zeichnungen beisteuert. Sie skizziert Orte der Erinnerung und Lebensräume. Das Lager, Wohnblöcke, das Gefängnis. Und Ausbruchsvisionen: einen See, Kraniche. Und lässt sie wieder verschwinden, überpinselt sie zuweilen mit Schwarz, winzige Höhlen lassend für die Liebenden. Nichts hat Substanz in diesem Dazwischen, nichts ist wirklich real im Wartestand. Am Ende bleibt Amir zurück. Aseptisch weiß ist die Wand, Besucher*innen wechseln einander ab, dazwischen macht Amir Übungen. Die Wiederholung als Dauerzustand. Auch der Abend ist nicht vom Fleck gekommen. Wo Salazar Anfang und ende imaginierte, am Schluss einen Ausweg, vielleicht gar eine Art Happy End andeutet, beschreibt Oder eine Kreisbewegung, die am Ende zum Anfang zurückführt, weil da nie etwas anderes war. Dazwischen, darin, währenddessen streckt sich Yigit in den immer enger werdenden Raum hinein, wütet sich in ein Leben, das nie das seine sein kann, und schreit und kämpft und krampft sich zugleich in die Resignation.

Der kurze Augenblick, in dem anderes möglich scheint als das Vorgegebene verfliegt. Er bleibt zurückt mit sich, seinen Dämonen, dem Nichts. Da verschwindet das Spiel aus Licht und Dunkelheit, verstummen die anrennenden Rhythmen der Musik, der Raps, der flöiegenden Fäuste und rennenden Füße. In gleißend gleichgültigem Licht erstrahlt die Leere, die weiße Wand, das Nirgendwo und das Nirgendwohin. Stille, Erschöpfung nach 90 hochintensiven Minuten im Herz der Finsternis, das unsere Gesellschaft so gerne verbirgt. Scheint das Licht, zeigt es, was wir erwarten: die Nicht-Integrierten, die fremd Bleibenden. Warum? Das zeigt sich im Zwielicht dieser Nicht-Uraufführung. Die zu sich findet, indem sie sich selbst genügt, die Geschichten in sich und den Darsteller*innen findet, Autorschaft anders denkt, kollektiv, gegenwärtig, ungefiltert, unmittelbar. Wie dieser ganze aufwühlende, durchschüttelnde, augenöffnende Abend.

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