„Was wäre, wenn…?“

Junges DT – Nach Hänsel und Gretel der Gebrüder Grimm: Verirrten sich im Wald. Eine Stückentwicklung von Robert Lehniger mit Virtual und Augmented Reality der CyberRäuber, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Robert Lehniger)

Von Sascha Krieger

Hänsel und Gretel? Klar, kennt man: Zwei Kinder, ausgesetzt im Wald, das Pfefferkuchenhaus, die Hexe, die am Ende ausgetrickst wird und im Ofen landet. Eingezwängt zwischen zwei Buchdeckeln, Ende der Geschichte? Oder? Denn die Buchdeckel können Geschichten heute längst nicht mehr unter Kontrolle halten. Sie wabern durch die Welt, die digitale, die virtuelle und landen vielleicht am Ende wieder in der so genannten wirklichen, bis zur (Un)Kenntlichkeit verändert. Und lassen sich nicht gerade Märchen auf unterschiedlichste Weisen interpretieren, führt das kindliche „Warum?“ nicht zwangsläufig zum „Was wäre, wenn?“ An diesem Punkt starten Robert Lehniger, das Junge DT und die CyberRäuber zu ihrer dichten einstündigen Reise durch die altbekannte Geschichte als Möglichkeitsraum. Das letzt genannte Duo ist im deutschsprachigen Raum Pionier in der Verknüpfung des realsten aller Kunsträume Theater und der virtuellen Realität, die erst nach und nach beginnt, ihr Potenzial zu öffnen. Nach einer Reihe spannender Versuche, virtuelle Welten zum Theaterraum zu machen, etwa mit einer Verlängerung von Kay Voges‘ Borderline-Prozession ins Digitale, versuchen sie nun umgekehrt, Techniken der Virtual (VR) und der Augmented Reality (AR) ins traditionelle, physische Theater zu integrieren und somit die Bühne selbst jenseits ihrer selbst zu erweitern.

Bild: Arno Declair

Der Abend nimmt die Form einer Spurensuche an, die schon vor dem Einlass beginnt. Spieler*innen halten Tablets in der Hand, die auf Programmheften Hütten erwachsen und in Ensemble-Porträts Geschichten diverser Gretels und Hänsels entstehen lassen. Drinnen geht es erst einmal so weiter, mit einer AR-Safari rund ums Haus, die in ein paar hübschen Miniaturen gipfelt, die aber ohnehin nur einige wenige auserwählte sehen. Ohnehin kann der Abend das Problem nicht lösen, wie sich die Kollektivität des Theatererlebnisses und die Individualität von VR- und AR-Erfahrung zusammenbringen lassen. Hat sich das Publikum gesetzt, bleibt die AR-Ebene weitgehend des Spieler*innen, vor allem den beiden, die als Spurenleser*innen auftreten, überlassen, während im Publikum herumgereichte VR-Drillen bestenfalls punktuelles Eintauchen in unterschiedlichste virtuelle Welten erlauben. Doch passt gerade dieses Fragmentarische durchaus zu Lehnigers Ansatz einer kollektiven Spurensuche. Die Gewissheit der Grimmschen Geschichte ist zerschlagen, jetzt gilt ein detektivischer Ansatz.

Der bald unterschiedlichste Szenarien aufdeckt: Da sind die blutverschmierten Rückkehrer, schwer traumatisiert vom Mord an der Hexe, eine Mädchen-Gang, die als Outlaws sich zunächst mit der Aussteigerhexe verbünden, ein Kinderduo, das kannibalistisch übereinander herfällt, wenn der Hunger zu groß wird, die Gretel, die dem Bruder verlor und nun sucht. Die Hütte ist ein Holzhäuschen, das zur Projektionsfläche wird – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Die Terror-Mädchen begegnen ihren älteren Versionen (neben zehn jungen Spieler*innen sind auch drei ältere Laiendarsteller*innen dabei), ebenso der verloren gegangene Hänsel, der in einer Art Star-Trek-Anzug seinem Alter Ego begegnet, während er durch Paralleluniversen reist. Lehniger verwebt die verschiedenen Geschichten zu einem Netz paralleler Welten, das Raum und Zeit zu erweitern sucht. Neben dem Haus wichtigstes Elemente von Janja Valjarevićs Bühnenbilds sind Lichtleisten, die wie Bruchstücke von Mustern wirken, die es zusammenzusetzen gilt. Und die sich verschieben lassen, ohne ihr Gehheimnis frei zu geben.Aus Nähe und Ferne bleiben sie rätselhaft – den Zuschauenden wie den Spieler*innen.

Bild: Arno Declair

Und hierfür sind nun die zwei Spurenleser*innen da, gespielt von Leni von der Waydbrink und Cedric Ziouech. Und eine solche Suche nach Mustern ist der Abend selbst: Die Geschichten bleiben fragmentarisch, dem Zuschauer dagegen die Aufgabe, sie zusammen zu bekommen. Es sind Geschichten von Opfern und von Tätern, von Verlorenen und sich selbst Ausgrenzenden, von Verstoßenen und zufälligen Opfern. Sind sie aus eigenem Antrieb der Welt abhanden gekommen, wurden sie von ihr verstoßen oder war alles nur ein dummer Zufall beim Versteckspiel. Der Abend streift die fragmentierte Wirklichkeitserfahrung einer Welt, in der digitale und physische Realität nicht immer präzise unterscheidbar erscheinen, die Vielfalt der Möglichkeiten, Informationen, Realitäten längst keine ganzheitliche Wahrnehmung mehr zulassen und zunehmend als Überforderung empfunden werden. Der Abend ist denn auch ein bisschen wie die Häppchensammlung des Internets, in dem kaum mehr als Brotkrumen aufzusammeln sind, das Ziel aber fern bleibt.

Es ist gerade die VR-Ebene, die Musterbildungen versucht, etwa wenn aus vereinzelten Lichtpunkten langsam ein Wald entsteht und dieser später wieder sich in geometrische Formen auflöst. Hier versucht die virtuelle der physischen Realität ein Koordinatensystem zu geben, das diese nicht zu erkennen vermag, weil die Nahdistanz nicht erlaubt, es zu sehen. Doch auch für den Zuschauer ist dieser distanzierte Blick nur ein Zufälliger: gewinnen kann ihn nur, wer die Brille zum richtigen Zeitpunkt aufsetzen kann. Anderenfalls bekommt er andere Fragmente von Geschichten zu sehen, die Raum und Zeit testen, dem Bühnengeschehen aber nichts hinzufügen. So bleibt die Spurensuche ein Puzzle, in dem die meisten Teile fehlen. Und die Frage bleibt, ob es Muster, die sich entdecken lassen, überhaupt gibt, ob nicht Zufall und Beliebigkeit Anfang, Mitte und Ende dieser oder unserer Geschichten bestimmen. Die Vielzahl der Möglichkeiten: Ist sie eine Chance weiterzudenken, Denken, Fühlen und menschliches Potenzial zu öffnen, oder führt sie direkt ins Trauma, in die Orientierungslosigkeit ins sich Verirren im realen, digitalen, nicht mehr zu durchdringenden Wald.

Verirren sich im Wald tut gut daran, den Versuch, diese Fragen zu beantworten, zu unterlassen. Vielleicht stellt er sie nicht einmal, sondern wirft sie nur Brotkrumen gleich den Spurensuchern hin, die sie womöglich übersehen. Bildstark ist der Abend, intensiv gespielt auch und in seiner Vielzahl von Geschichten- und Sinnangeboten überaus dicht. Und vermag es doch nicht recht, die unterschiedlichen realitätsebenen zusammenzufügen zu einem gemeinsamen Erleben. So bleiben VR und AR optionale Erweiterungen, das Bühnengeschehen das Hauptgericht, für sich durchaus sättigend. Auch verzettelt sich der Abend, seine Zeitreise- und Parallelwelten-Sketche, komplett mit wissenschaftlicher Erklärung, wirken überflüssig, als traute man dem Erzählungsmosaik nicht ganz, als glaubte man, noch etwas „Größeres“ hinzufügen zu müssen. Das braucht es gar nicht, das lückenreiche Puzzlespiel reicht völlig aus, den alleinigen Wahrheitsanspruch etablierter Narrative aller Art in Frage zu stellen, anzuregen darüber hinaus zu denken, sie als Ausgangs-, nicht als Endpunkt anzusehen. Anregend ist der Abend allemal, unfertig ebenso und ratlos allemal. Eine gute Voraussetzung, auf die Suche zu gehen.

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