Vom Winde verweht

Árpád Schilling und Éva Zabezsinszkij: Der letzte Gast, Berliner Ensemble (Regie: Árpád Schilling)

Von Sascha Krieger

Um Fremdheit soll es gehen in Árpád Schillings neuem Stück. Ein Thema, mit dem der Ungar sich auskennt. In seiner Heimat zum Staatsfeind erklärt, lebt er mittlerweile im französischen Exil. Im eigenen Land zum Fremden gemachte, im fremden Land längst nicht heimisch. In Der letzte Gast, lässt er die „Fremden“ aufeinander stoßen. Die ehemalige Opernsängerin Klara nimmt spontan den Taxifahrer Blau mit nach Haus, zum Laubfegen zunächst, später soll er das Nachbarhaus renovieren. Blau ist so ein „Fremder“, seine Herkunft wird nie aufgeklärt, er schweigt sich aus. Überhaupt redet er nicht viel, ist kaum mehr als eine Projektion des westlichen Blicks auf das Andere. Die eine (Klara) betrachtet ihn mit der Faszination des Exotischen, die anderen – Familienfreundin Jutta und Tochter Berta – mit der Angst derer, für die alle, die vermeintlich nicht wie sie selbst sind, eine Bedrohung darstellen. Irgendwann wird deutlich: Klar ist selbst so eine „Fremde“, sie hat den nun tyrannisch dement im Rollstuhl sitzenden Professoren-Mann nur geheiratet und sich von ihm schwängern lkassen, um aus der DDR fliehen zu können. Auch sie gehört nicht in diese Villa. „Ich kenne diesen Gestank“, sagt sie einmal zu Blau. „Ich stinke doch selber.“

Bild: JR Berliner Ensemble

Hier hat alles seine Kehrseite, die immer auch Spiegelung ist. Márton Ághs parkettbesetztes Bühnenrund verbindet und trennt zwei Welten. Auf einer Seite die gediegene Wohnlandschaft, die gehobene Ordnung mit weißem Sofa und Couchtisch, auf der anderen eine Baustelle mit weggeworfenem Mobiliar und maroder Substanz, das Weggesperrte, Verdrängte, die andere, eigentliche Realität. Immer wieder lässt Schilling die Figuren auf die andere Seite blicken, sehnsüchtig, gierig, fordernd oder ängstlich. Denn natürlich fehlt den „Fremden“ etwas: Klara, mit zunehmend ins Schweben geratender Contenance und sich später halbinfantil auflösend gespielt von Corinna Kirchhoff, sucht Nähe, Verbindung, nicht zuletzt zu sich selbst und glaubt sie zu finden in Blau.

Doch hier beginnt schon die Crux des Abends. Denn dieser, gespielt von Nico Holonics, ist so ungreifbar in seiner fiebrigen Unbestimmtheit, seiner nervösen Abwesenheit, seiner passiven Belegbarkeit mit eigenen Projektionen, dass er Klaras Begehren in die Weiten der Abstraktion schießen, sie vom Winde (eine Windmaschine kommt denn auch mehrfach zum Einsatz) verwehen lässt. Zumal jede*r hier seine Leichen im Keller hat: Jutta hatte mit Klaras Gatten Helmut lange eine Affäre, die sie auch jetzt nicht aufzugeben bereit ist, Blaus Baustellen-Mitstreiter Arnold ist ein in Scheidung begriffener Choleriker mit Sehnsucht nach den Kindern, Berta betrachtet die „Neuen“ als Eindringlinge und will mit allen Mitteln die scheinbare Ordnung aufrecht erhalten, wobei sie natürlich auch von weggesperrtem Begehren gequält wird. Jede*r verdrängt irgendwas, ist seelisch und emotional amputiert, (sich selbst) fremd und daher umso bereiter, den als anders Markierten die eigene Unzulänglichkeit ins Geschichte zu schlagen.

Schilling jongliert hier mit einem Themengewirr aus Rassismus, Assimilation, gesellschaftlichem Druck und wirtschaftlichen wie politischen Machtverhältnissen, die er nur selten in der Luft zu halten vermag. Auch weil er im Unklaren scheint, in welche Richtung er sein Material drehen will. Mal neigt sich der Abend in Richtung realistisches Familiendrama, dann bekommt er einen Kick von düsterer Horrortragödie, um immer wieder ins Farcenhafte zu kippen. Da spürt man in einem Moment die existenzielle Einsamkeit der sich selbst als „fremd“ abstempelnden und wird  im nächsten mit der Lächerlichkeit der albernen Oberflächenpolierer*innen konfrontiert. Gerade Sascha Nathan als Arnold erweist sich einmal mehr als gewichtige Komikmaschine.

Doch auch seine Figur zerfällt: Der rumpelnd lachhafte Choleriker passt nicht zusammen mit dem leidenden Familienmenschen. Doch wenigstens ist er nicht zu einseitig klischeeverhangen wie Bettina Hoppes Berta und Judith Engels‘ Jutta, bei denen die Versuche, den Figuren Tiefe zu verleihen, schnell als albern abzutun sind – was nicht an den Darsteller*innen liegt, vor allem Engels‘ radikal egomanische Lebenslügevirtuosin Jutta bleibt im Gedächtnis. Die Unwucht liegt begründet beim Regisseur und (Co-)Autor, der sein Themenkomglomerat nicht in den Griff bekommt. Das zeigt sich vor allem bei den Hauptfiguren: Die mit klaren Strichen skizzierte Klara und der abstrakt verwaschene Blau verkehren nicht auf der selben Realitäts- und narrativen Ebene. Jegliche Beziehung zwischen ihnen muss Behauptung bleiben, das sie ganz unterschiedlichen Ausdrucks- und Genresphären angehören, Kirchhoffs Boulevard-Schärfe und Holonics‘ Metaphernhaftigkeit  keinerlei Schnittfläche aufweisen.

Dass das Personal sich nicht zuletzt in Stereotypen aufteilt – der sexistische Familientyrann, der primitive Machtmensch, die verklemmt dünkelhafte Tochter, die raubtierhafte Geliebte, allesamt Statusverteidiger, Gesellschaftsabschotter und Ausgrenzer der nicht Dazugehörenden – tut ein übriges. Die Fronten sind schnell klar, die „Fremden“ bleiben draußen oder werden um den Preis der Selbstaufgabe „eingenordet“. Nur reibt sich das eben mit der Unentschiedenheit und Unfertigkeit, die Stück und Inszenierung ebenfalls umtreiben. Eine Reibung, die keine Funken schlägt, sondern den Zerfall nur beschleunigt. Über den vollkommen misslungenen Versuch, das längst Auseinandergepurzelte am Schluss noch irgendwie zusammenzuklumpen, sei der Mantel des Schweigens gebreitet. Letztlich verhebt sich Árpád Schilling trotz großartiger schauspielerischer Leistungen (Inka Friedrich als Arnolds Geliebte, die keine dramaturgische Funktion zu finden vermag, ist noch zu erwähnen) an seinem Stoff, bekommt er die Gedanken- und Motivstränge nicht geordnet, vielleicht auch, weil diese Geschichte ja ganz akut die seine ist, ihm womöglich zu nahe steht, um die Distanz, die für eine künstlerische Verarbeitung stets vonnöten ist, zu erlauben.

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