Schrödingers Mensch

Nach Motiven der Erzählung von Franz Kafka: Eine Bericht für eine Akademie, Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Oliver Frljić)

Von Sascha Krieger

Der kroatische Theatermacher Oliver Frljić ist nicht gerade dafür bekannt, sich zu mäßigen. Er liebt die Provokation, mag drastische Bilder und nutzt lieber den Vorschlaghammer als das Skalpell. In seinen Inszenierungen werden schon mal der Papst oral befriedigt oder Schauspieler Folter per Waterboarding unterzogen. Das verfehlt seine Wirkung selten: Wer Frljićs Namen googlet, wird schnell auch auf das Wörtchen „Skandal“ stoßen. Wenn er nun ausgerechnet am Berliner Maxim Gorki Theater arbeitet, diesem Hort der Diversität und Toleranz, an dem schon mal eine Premiere verschoben wird, damit sich die weiblichen Mitarbeiterinnen einem bundesweiten Frauentagsstreik anschließen können, ist er unter Freunden, Skandale eher nicht zu erwarten. Auch wenn er es nicht ganz lassen kann zu provozieren – im missglückten Einstieg schließt Sesede Terziyan mit heiligem Ernst als J .M. Coetzees Elisabeth Costello mal eben Shoa und Massentierhaltung kurz – weiß Frljić, dass er hier anders zu Werke gehen, sein Gift über andere Wege in die bürgerliche Seele träufeln muss.

Bild: Esra Rotthoff

Franz Kafkas Ein Bericht für eine Akademie nimmt sich Frljić zum Ausgangspunkt, die Geschichte vom Affen Rotpeter, der so lange und weit zivilisiert wird, bis er als vollwertiger Mensch durchzugehen vermag, was die Gesellschaft nicht davon abhält, ihn stets auf sein Anderssein hinzuweisen. Egal wie sehr er sich assimiliert und sein Affensein leugnet, die Macht, ihm seinen Platz zuzuweisen, gebührt anderen. Viele sehen in der Erzählung eine Auseinandersetzung des Juden Kafka mit seiner eigenen Stellung in der Gesellschaft, seiner Assimilation und der nie endenden Einordnung als Jude, als Anderer. Frljić bindet diesen Aspekt ein, nicht nur im Prolog, reduziert seine Lesart aber nicht auf ihn. Das Anderssein, das Rotpeter – und auch Kafka – bescheinigt wurde und wird, ist nicht auf bestimmte ethnischer oder sonstige Zugehörigkeiten zu reduzieren, es ist willkürlich, ein Machtinstrument, einsetzbar gegen jede und jeden.

Dabei gelingt die „Integration“ Rotpeters bei Frljić besonders gut, er lässt sie gar in die Familie seines Fängers Carl Hagenbeck einheiraten, was die Perfidie des Dazugehörens bei gleichzeitiger Abgrenzung noch deutlicher macht, etwa in einer furiosen Szenenfolge, in der Jonas Dasslers Rotpeter und sein von Lea Draeger mit der Wandlungsfähigkeit einer Ungreifbaren gespielte Frau in einen Ehestreit mit zahlreichen Versöhnungen geraten, in welchem Draeger Dassler sämtliche rassistischen Klischees und antisemitischen Stereotype, die ihr einfallen, an den Kopf wirft und bei aller farcenhaften Boulevard-Hysterie dieser schreiend komischen Szenen klar wird: Hier hat eine die ganze Macht über den anderen, sie allein entscheidet über sein Schicksal. Zivilisation und Integration, Gleichstellung und Freiheit, das macht der Abend immer wieder deutlich, sind Geschenke, nein, Leihgaben, die jederzeit wieder entzogen werden können.

Das Zivilsatorische ist immer auch das Unterdrückende und Zerstörende. Wenn Aram Tafreshian in seiner Hochzeitsrede als Hagenbeckscher Patriarch die Vergangenheitsbewältigung der Familie preist und zugleich apologetisch den Fortschritt als willkürliche und neu Ungerechtigkeiten produzierende Emanzipationsleistung feiert, die er an anderer Stelle zynisch als taktisches neues Machtinstrument entlarvt, dann spiegelt sich darin das bewusst platzierte Paradoxon von Schrödingers Integriertem, Schrödingers Mensch: Er ist immer zugleich assimiliert und ist es nicht, ist Mensch und immer auch Affe. Dabei gilt das beidseitig: Tafreshian liefert besagte Rede in animalischer Nacktheit ab, doppelt sie mit einem anderen dressierten Affen, den er übergangslos auch spielt und auch der Rest der Gesellschaft driftet gern ins Animalische. Das tut auch Dasslers Rotpeter, der zwischen gebildet kultivierten Oberschichtler und gemartertem Tiert, mit einiger Brutalität sein Menschsein Verteidigendem und schutzlos ausgeliefertem pendelt, mitunter im gleichen Satz, in der gleichen Geste, im gleichen Blick. Doch sein Tiersein ist Anklage, Kette, Käfig, das der anderen dagegen Recht, Privileg, Waffe. Der Abend ist im Übrigen auch grandioses, sehr körperliches Schauspielertheater, in dem sich Jonas Dassler einmal mehr als Riesenbegabung erweist – aber das nur nebenbei.

Igor Pauška hat Frljić eine Wand aus Büchern auf die Bühne gehievt, Sinnbild von Zivilisation und er emanzipatorischen Kraft der Bildung. Die Illusion bleiben, weil sie einzig zweckdienlich der Aufrechterhaltung der Verhältnisse dienen. Und so stürzen sie am Ende ein, wenn Dassler am Rednerpult steht, als Bundestagsabgeordneter, als der er von seinen Herren gekürt wurde, die ihm weismachen, er hätte es aus eigener Kraft und eigenem Willen geschafft. Er hält eine Rede, die den Mythos der erfolgreichen deutschen Vergangenheitsbewältigung – ein weiteres Thema, das am Abend immer mitschwingt, verknüpft mit populistischer Schlussstrichrhetorik und utilitaristisch begründeter progressiver Migrationspolitik. Gut ist, was nützt, das hat Rotpeter längst verinnerlicht, halb wissend, dass das auch für ihn gilt. Das Reichstagsgebäude ist hier ein Käfig, darin ein echter dressierter Pavian, dem gegenüber Dassler zuvor schon gebeichtet hat. Dressur und Unterdrückung hören nie auf, und sie sich immer weniger zu unterscheiden von Zivilisation und Freiheit. wer ist unfreier? Der fremde Worte absondernde Parlamentarier oder angekettete Affe, der natürlich auch dressiert ist. Seiner Natürlichkeit beraubt oder von ihr befreit? Und ist die Mär vom natürlichen Zustand nicht auch ein zynisches Unterdrückungsinstrument, ein Mittel, die/den Andere*n zur*m Fremden zu machen?

Je klarer wird, wo Frljić hin will, desto mehr verschwimmt die Botschaft. So steht irgendwann Kafka selbst auf der Bühne, gespielt von Mehmet Ateşçi, führt Dasslers Rotpeter die eigene Spiegelung in ihm, durch ihn selbst vor, seine Metaphernhaftigkeit und zugleich deren Scheitern. „Sie stellen nichts dar. Ihre Bedeutung ändert sich ständig“, sagt der Autor seiner Figur und spricht auch über sich selbst, längst Spielball von Interpretation und Instrumentalisierung. Rotpeter dreht die Machtverhältnisse um und bleibt in ihnen gefangen. Doch das gilt auch für alle anderen, denn auch sie sind Spielball ihrer eigenen Narrative, die zudem in der Kontrolle eines Autors liegen, der das Netz spiegelt, in dem er selbst steckt. Und so taumelt dieser Genremix von einem Abend, der Slapstick mit Melodram, Farce mit Kammerspiel, Varieté mit Seifenoper mixt, der überzeichnet und reduziert, gern mal mitten im Satz den Ton wechselt, Sitcom-Klänge auf schmalzige Filmmusik treffen lässt, voran in eine verwirrende Offenheit, in der sich seine Grundthesen schärfen und im selben Moment im Fleischwolf landen. Nein, der Oliver Frljić, der am Gorki inszeniert, ist nicht milder geworden. Subtiler sicher, an der Oberfläche heiterer gewiss, doch sein Zivilisationsporträt ist so düster wie eh und je. Und der Gewissheit, die in provokanter Polemik ja auch wohnt, beraubt, steigt die Unsicherheit, schwankt der Boden umso mehr, gähnt der Abgrund noch finsterer.

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