Die Stunde der Zauberer

Heiner Müller: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, Ruhrfestspiele / Schauspiel Hannover (Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner) – Gastspiel an der Volksbühne Berlin

Von Sascha Krieger

Die Revolution ist ein Zirkus. „Liberté – Egalité – Fraternité – steht über dem glänzenden roten Vorhang, der Eintritt gewähren wird zur Manege, zur Show der Kuriositäten und Tricks aus einer kaum mehr real erscheinenden Vergangenheit. Gescheitert ist die Revolution schon bei Heiner Müller: Sein Dauerbrenner Der Auftrag beginnt mit ihrem Post Mortem und arbeitet sich bruchstückhaft, unsicher, unzuverlässig zurück zu den Wurzeln der Katastrophe oder mindestens ihren Symptomen. Unter den Händen Tom Kühneln und Jürgen Kuttners wird diese Betrachtung Jahrzehnte später selbst zum Ausstellungsstück, zum Unterhaltungsgegenstand. Wenn die Revolution schon tot ist, taugt sie zumindest zur Unterhaltung. The Show Must Go On und Time Is Money. Also packen die Regisseure allerlei Zaubertricks aus: Da verkleidet sich der einstige Auftraggeber Antoine, der drei Revolutionäre nach Jamaika schickte, um dort einen Sklavenaufstand zu initiieren, als Teekanne, als Biedermann, gut getarnt in der neuen Welt der post-revolutionären Zeit, jetzt, da Napoleon mal eben die Demokratie abgeschafft hat und die Weltrevolution nicht mehr auf der Agenda steht. Die Übermittlung der Nachricht vom Scheitern der Unternehmung erfolgt als surrealistische Choreografie, der Bote, rotbefahnt, gekleidet als revolutionärer russischer Matrose. Geschichte wiederholt sich, sagt Marx, und beim zweiten Mal kommt sie als Farce daher.

Bild: Katrin Ribbe

Das gilt für den gesamten Abend, der das voller Brüche steckende Stück konsequent zur Nummernrevue zerschießt, das Archiv theatraler und unterhaltender Spiel- und Performanceformen gründlich plündert und die massenkulturelle Zitatekiste auf der Bühne ausleert. Da spielen sie die Sklavenbefreung am Beispiel in Käfig ausgesteller Menschen als Magiernummer durch, zitieren bei der Begegnung des Sklavenhaltersohns Debuisson mit seiner Vergangenheit „Vom Winde verweht“ und geben dazu eine kitschtriefende Stummfilmszene,  machen aus dem „Theater der Revolution“ eine atemberaubende Live-Animationsfilmnummer und bringen zum Showdown Protagonisten allerlei gescheiterter Welt- und sonstiger Revolutionen – von Marx bis Stalin, von Lenin bis Che – in einer art Familiendrama zusammen, um sie alle vom Verräter Debuisson meucheln zu lassen. Den spielt Corinna Harfouch im Pierrotkostüm. Schneeweiß ist sie zu Beginn die Mitte der Tricolore und bleibt später als einzige übrig. Weiß gewinnt, im Schachspiel von Macht und Unterdrückung gilt das bis heute.

Wer nach Assoziationen sucht, dem raucht bald der Kopf. Verstehen muss man ohnehin nicht alles – wir sind schließlich bei Müller. Warum die zu befreienden Schwarzen am Anfang als Vertreter der Blue Man Group auftreten und starr grinsend auf eine Tonne einprügeln? Egal, die Show muss weitergehen und auch Redundanzen ölen die Maschine. „Let me entertain you“, schreibt und der zirzensische Revolutionsabklatsch zu – und driftet doch irgendwann kaum merklich ab in ein dunkleres reich aus Trauer, Ratlosigkeit, Verzweiflung, Revolution. Das entert Harfouch auf leerer Bühne. In die Traumszene vom „Mann in Fahrstuhl“ steigt sie zunächst mit satirischer Gewissheit ein. Leicht sächselnd erzählt sie von der Absurdität bürokratisch erstarrter Gesellschaften, den ausgesetzten Findelkindern einer abgebrochenen Revolution. Doch ganz allmählich kippt die Stimmung, verdunkelt sich die Welt. wenn der Träumende sich in peruanischer Vergessenheit verliert, wird es still, erfüllt eine Trauer die Bühne, die sich nicht mehr weglachen oder -zaubern lässt. Sie bleibt da, steht in der Welt, klagt den Verrat an, trauert über vergebene Chancen, mahnt die Nachgekommenen.

Da ist sie präsent, die Vergangenheit, sind sie beinahe greifbar, die beschworenen Geister gescheiterter Versuche der Menschheitsverbesserung. Und das, obwohl hier vermeintlich ganz die präsente Gegenwart spricht. Denn überweite Strecken sehen wir sie nur, hören jedoch die Vergangenheit. Den Soundtrack des Abends bildet die Aufnahme einer Lesung aus dem Jahr 1980, in der Müller selbst sein Stück vortrug. Mit tiefer, sonorer Stimme, eintönig, scheinbar desinteressiert, den Text verschließend und ihn in seiner so entstehenden Interpretationsverweigerung erst wirklich öffnend. Die Darsteller*innen bewegen meist die Lippen, werden zum Medium, durch das der Geist der Vergangeheit spricht. Das kontrastiert spannungsreich mit der zirzensischen Gegenwart, die sich spielerisch zweifelnd auf das Textmaterial stürzt, es ironisch bricht, assoziationsstark verknotet, es lustvoll auseinanderreißt und neu zusammensetzt, neue Bilder schafft zu den alten Worten. Diese widersprechen, verwerfen, machen lächerlich, aber sie verstärken das gesagte auch, bringen es nahe, verzerren es bis zur Kenntlichkeit. Die großartige Liveband, die Tentakel von Delphi, vermag ähnliches, wenn sie dramatisiert oder die Worte schweben lässt, ihnen Hall und Körper verleiht oder sie auch mal wegspült.

Hier prallt das Vergangene auf die Gegenwart, ist ersteres selbst vergangen – der Text ist ja über weite Strecken ein Rückblick – und letzteres ebenso: Wer geht denn heute noch in den Zirkus. So zerbrechen die Ebenen, driften auseinander wie arktische Eisschollen in Folge des Klimawandels. Auf ihnen treiben uralte Wünsche und Träume der Menschheit nach Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Frieden. Worte nur, erstarrt, gebannt auf alten Tonbändern, wo sie längst ihrer Bedeutung beraubt sind. Füllwörter. Die Kühnel und Kuttner in bunte symbolschwangere Bilder und gern auch albern überzogene Assoziationsreigen übersetzen, die sich erst langsam und mühselig in irgendeine Art von Beziehung mit dem geschriebenen und gesprochenen Wort hineinspielen müssen.

2015 hatte der Abend Premiere, zu einer Zeit, als der Begriff Revolution sicher in Geschichtsbüchern verwahrt schien. Jetzt, vier Jahre später, ist er plötzlich wieder aufgetaucht, usurpiert von seinen Erzfeinden, mutierend zu einem rechten Kampfbegriff, der den Umsturz einst revolutionärer Gesellschaftsformen, die Abschaffung all jener Errungenschaften will, die selbst die Blutbäder der Guillotinen überlebten. Und so klingt das Ende diese Abends heute womöglich anders als bei seiner Premiere. Die Bühne ist leer, Müller Wort dröhnen, entkörperlicht, davon in das Nichts, aus dem sie kamen. Ein einzelnes Spotlight erhellt die Bühne. Doch niemand steht in seinem Kreis, niemand tritt hinein. Der Mensch, das revolutionäre, weltverändernde Wesen bleibt abwesend. Es wird dunkel.

Und lässt Fragen offen: Teilt der Abend den Müllerschen Pessimismus oder offeriert er in seiner verspielt vielstimmigen Bildererfindung Wege, das einst Gescheiterte neu zu denken, verbirgt sich in der Juxtaposition des Nichtpassenden, der intellektuellen und zirzensischen, vergangenen und gegenwärtigen, papiernen und physischen Ebenen so etwas wie ein Rest Hoffnung? Lädt er ein, den Lichtktreis zu füllen, bevor es andere tun, welche die Dunkelheit permanent machen wollen? Ruft er die Stunde der Zauberer aus, des Theaters als Möglichketen denkbar machender Traumort? Vielleicht. In jedem Fall steckt der Kopf am Ende dieser 100 Minuten voller Bilder, gedankenfestzen, assoziativer Ansätze, die weitergesponnen werden wollen, sich festhaken und insistieren, beachtet zu werden.. Was mehr will Theater eigentlich können?

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