Tanke schön

Luis Krummenacher, David Thibaut, Emma Charlott Ulrich, Magdalena Weber: Tankstelle, P14 – Jugendtheater der Volksbühne Berlin (3. Stock) (Regie: Luis Krummenacher, Emma Charlott Ulrich, Magdalena Weber)

Von Sascha Krieger

Der Traum von der unbegrenzten Mobilität des Einzelnen gehört zu den Urmythen kapitalistischer Fortschrittsideologie. Das Auto ist bis heute dessen wirkmächtigstes Symbol, die Tankstelle einen mythenumränkter Ort unendlicher Möglichkeiten. Zu Beginn des gleichnamigen neuen Abends von P14, dem Jugendtheater der Volksbühne, ist selbige Mobilität längst zum bedeutungsleeren Selbstzweck geworden: Drei junge Frauen in angedeuteten Mechanikerinnen-Outfits bewegen sich liegend auf wie Rucksäcke angeschnallten Rollbrettern ziellos durch den Raum und kreieren gemeinsam mit den sich ähnlich gerierenden Kulissenteilen ein Ballett sinnfreier Bewegung. Überhaupt ist hier wenig Mobil zwischen Tresen, Holzlamellen-behangener Fensterfront und einer Zapfsäule, die eher nach Schrankwand-Element aussieht. Der Traum von der grenzenlosen Freiheit ist ausgeträumt. Wer hier landet, kommt nicht mehr weg. Draußen – und auf Wänden und Fernsehbildschirm – peitscht unaufhörlich der Regen, eine Art Sintflut, die am Ende das Meer bis an die Tankstelle bringen wird. Die Geister, die der Traum rücksichtsloser Mobilität rief, kommen als entfesselte Natur zurück. Das aufgeheizte Klima nimmt sich, was es kriegen kann.

Bild: Charlotte Helwig

Das Ensemble plus Autor*innen-Quartett etabliert den einstigen Hoffnungs- und Möglichkeitsort als dessen Gegenteil, als sein Negativ in kaltem Schwarz-Weiß. Als absurden Warteraum, in dem der Mensch nur noch als Endlosschleife zu denken ist. Die Thekenherrscherin ergeht sich in Weiter-so-Phrasen, die dauerlächelnde Kollegin erzählt Geschichten in ständiger Wiederholung, der Möchtegern-Dichter scheitert täglich an seinem Roman und deklariert die zerknüllten Dokumente seiner Schreibblockade schließlich als Kunst, das Mechaniker*innen-Trio spielt und singt sich als Band hinein in die ausweglose Situation. Die Welt ist ein Wartesaal in einem leeren Universum – ob da draußen noch etwas ist, bleibt unklar, auch wenn irgendwann einer nach dem anderen geht. Doch tun sie das wirklich? Gibt es überhaupt noch irgend jemanden, der/die irgendwohin gehen könnte? Eher kommen sie. Wie Ella, die einen Scheibenwischer braucht und diesen Ort nie mehr verlassen wird.

Kann sie auch nicht, denn sie ist die Protagonistin, wie wir zu Beginn erfahren. Denn dieser Abend ist auch eine Befragung der Möglichkeit, Geschichten zu (er)finden und zu erzählen, wenn die Geschichte dabei ist zu enden. Viel erinnert an Beckett, dessen Endspiel hier Pate steht und dessen Warten auf Godot einmal gar wörtlich zitiert wird. Geschichten brauchen ein Irgendwohin – doch, was, wenn es dieses nicht mehr gibt? Dann geht der Dichter-Künstler nach „Buenos Aires“, die Plapper-Virtuosin ins Wattenmeer, die Tankwärtin irgendwo raus in die Welt. Leere Namen, die nichts mehr bezeichnen außer der Erinnerung an die einstige Denkbarkeit eines Konzepts wie „Ort“. Der nicht einmal mehr Fiktion ist. Also nimmt der gut eineinhalbstündige Abend selbige auseinander, spielt mit den Komponenten des Fiktionalen in einer Mischung aus surrealem Albtraum und absurd trauriger Farce.

Denn eines ist nicht totzukriegen: das Spiel, der vielleicht letzte Kraftquell menschlicher Selbstbehauptung (den zu besiegen selbst Beckett schwerfiel). Also spielen sie: Erinnerungen normalen Alltags, klischeesatte Selbstverwirklichingsfantasien, sehnsuchtsvoll alberne Liebesstereotypen. Sie stellen sich an die Rampe und deklamieren pathostriefend, ergehen sich in wunderbaren Slapstickroutinen oder liefern sich Dialogduelle sinnentleertester Absurdität. Da wird dann auch der ersten Autofahrerin Bertha Benz, der Ikone naiver Fortschrittsgläubigkeit eine surrealistische Dichterin, wie die Tanksäule zum Möbel mutiert und die Tankstelle zum beweglichen Bühnenbild, das sich vielleicht, so die Hoffnung eines Liedes, nochmals benutzen ließe.  So lange sie spielen, so lange sind sie nicht tot und besteht die Illusion, die Monsterwelle könne sie womöglich nicht wegschwemmen sondern tragen. Also wird weiter gespielt und gesungen und getan als ob.

Die Geschichten bleiben Fragment, drehen sich im Kreise, finden keine Realität zum Andocken. Das bringt des Abend immer wieder an den Rand der Beliebigkeit, treibt seine sympathische Sprödigkeit zuweilen in die Nähe der applausheischenden Pose und kreiert vor allem gegen Ende so manche sich nicht mehr füllende Länge. Und doch ist diese trocken absurde Abrechnung mit gesellschaftlichen Lebenslügen und der freiwilligen kollektiven Gefangennahme längst nicht mehr zu haltender Fortschrittsnarrative zwar ein feinhumoriges und anarchisch albernes Dokument des Scheitern, scheitert aber selbst nicht. Weil es uns erzählt, was wir zwar wissen, aber allzu gern verdrängen: von der Sackgasse, in die wir uns verfahren haben und aus der wir nicht mehr rauskommen, ob mit oder ohne Scheibenwischer. Aus der wir uns vielleicht nur noch rauserzählen, rausträumen, rausimaginieren können. Absurd, das alles. Spielen wir weiter.

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