Luftharfe in der Geisterbahn

Anton Tschechow: Drei Schwestern, Deutsches Theater, Berlin (Regie: Karin Henkel)

Von Sascha Krieger

„Man wird uns vergessen.“ Es ist einer der ersten Sätze, die an diesem Abend fallen. Angela Winkler spricht ihn, die ewig Junge, elfenhafte, die schauspielerische Traumzauberin stehen gebliebener Zeit. Oder besser: Es ist ihre Stimme, die ihn spricht, verstärkt,. vom Körper getrennt, hervorerinnert aus einer längst vergangenen Zeit, die es vielleicht nie gab, weil sie lange vergessen ist. Karin Henkel inszeniert Anton Tschechows Dauerbrenner Drei Schwestern als albtraumhafte Erinnerungstortur einer gealterten und doch in der Vergangenheit längst versackten, stehen gebliebenen Irina in Person Angela Winklers. Sie steht zu Beginn traumverloren im fahlen Restlist einer Haus-Skizze, die aussieht wie ein Versuch Mies van der Rohes, in Holz zu bauen, betrachtet durch die Perspektive eines LSD-Trips. Eine Mischung aus Modernismus und Fiebertraum, über die immer wieder Geisterbilder flattern, gespenstische Schemen (Bühne: Nina von Mechow, Video: Voxi Bärenklau). Dann kippt das Haus, das Intérieur beginnt zu verrutschen, eine Leiche schlittert herein, die Tusenbachs, der sich einst aus unerwiderter Liebe zu Irina erschoss. Die Toten ruhen nicht und die nie ganz Lebendigen erst recht nicht. Bei Henkel wird der Theater-Untote Drei Schwestern zum Zombie-Märchen, zum Albtraum nicht verarbeiteter und unerfüllter Sehnsüchte, zur Geisterbahn ungelebter Leben.

Bild: Arno Declair

Weit weg ist diese Inszenierung von jeglichem Realismus, Verfremdung ihr oberstes Gebot. Mit Ausnahme von Winkler als „gegenwärtiger“ Irina werden alle Rollen von Männern gespielt, die noch dazu zu Beginn und gegen Ende maskiert sind. Dabei interessiert weniger der Geschlechtertausch – die gesellschaftpolitische Ebene des Stücks wird ohnehin weitgehend ausgespart – als die größtmögliche Entfernung von jeglicher Andeutung eines Realismus. Meist teilen sich die Darsteller die Frauenrollen mit denen der passenden Partner oder Geliebten – ein Umstand, aus dem Henkel ebenfalls nichts macht, und der wie so vieles an diesem Abend rein funktional ist und die interpretatorische Ebene kaum bis gar nicht berührt. Denn nach dem atmosphärisch starken beginn macht es sich der Abend schnell in seiner eigenen – zugegeben eher kalten und düsteren – Komfortzone bequem. Und diese führt direkt hinein ins Dauerlamento der von Moskau träumenden und in der Provinz gefangenen Schwestern samt ebenso depressivem Zusatzpersonal. Zielsicher sucht sich Henkel alle Textteile zusammen, die von der Trostlosigkeit menschlicher Existenz, enttäuschten Hoffnungen und vollkommener Resignation sprechen, von Hoffnungslosigkeit und der Vergeblichkeit auch der schönsten Utopie.

Man zelebriert das Leiden, tut dies aber so ironiefrei, dass das Publikum zwei pausenlose Stunden später das theater ähnlich deprimiert verlässt. Dabei sind durchaus großartige Darsteller*innen zu sehen: Bernd Moss etwa, der seine Olga wunderbar dünnhäutig gibt und seinen Werschinin wie einen begossenen Pudel, Benjamin Lillie als naive Traumtänzerin Irina und als berührend schüchternen Nikolai, Felix Geser als Luftharfe (!) spielenden Super-Schlaffi Andrej und dämonisch dominante Natascha. Einzig Michael Goldberg will sich mit seiner ironischen Schnoddrigkeit nicht ganz einfügen – ihm gerät seine Mascha etwas zu aggressiv und sein Kulygin einen Tick zu komplexgetrieben. So bringt er ein wenig Komödie in die dröge Trostlosigkeit. Das ist fast angenehm, ist doch ansonsten selbst die Lächerlichkeit eines Andrej so humorbefreit, dass es fröstelt.

Um das Albtraumhafte zu betonen, tut Karin Henkel zudem einiges: Sie gibt ordentlich Hall auf die verstärkte Stimmen, arbeitet mit Echos, lässt dräuend schwebende Klänge über die Szenerie legen (Musik: Arvild Baud), bringt wiederholt das Set ins Rutschen, streut Zeitlupenszenen ein und und und. Verfremdung als Ausdruck von Entfremdung. Nur leider ist das Konzept schnell durchschaut und folgt dann nichts Neues mehr. Loop-artig quälen die Figuren sich – und uns – durch immer neue Ausdrücke ihrer Perspektiv- und Ziellosigkeit, was immer und immer wieder auf ein und dasselbe hinausläuft: Man ist in seinem Leben gefangen und kann nicht raus. Männer, Frauen, alle? Warum? Egel“! Gesellschaftliche Aspekte, etwa das Gefangensein in Geschlechterrollen – angesichts der Besetzungsidee ein erwartbares Thema – bleiben außen vor. Stattdessen finden sich die drei plus Entourage in einer Art Beckettschem Nichts wieder, erinnert von einer, die auch nie ausbrach, weil es nichts gibt, wohin man ausbrechen könnte.

Eine seltsam geschichtslose wie ambitionsfreie Inszenierung, deren Grundidee eher dem Wunsch zu entspringen scheint, etwas anders zu machen als all die anderen Interpretationen dieser Geschichte, als dass sie irgendetwas über sie oder über die Figuren oder gar das Allgemeinmenschliche zu sagen hätte. Das sich ganz am Ende dann doch noch hineinschleicht in das Zombie-Kabinett. Denn da kommt Angela Winkler zurück, treten ihr ruhiges wissendes Sprechen, die Worte einer Weisen, die alles gesehen und verstanden hat, in eine ganz außergewöhnliches Spannungsverhältnis mit diesem kindlich verwunderten, naiv staunenden Blick, dieser mädchenhaft unschuldigen Stimme, passen die Sätze der Hoffnungslosigkeit nicht zu der Neugier, die diesem zarten Körper entströmt. Da ist plötzlich ein Leben, das in dieser Kältekammer keinen Platz findet und doch nicht weg geht. Ein still trotziger Protest gegen all diese Lebensfeindlichkeit. Und ein ganz kleiner Glimmer Hoffnung, wo sie längst verboten schien.

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