Vergangenheit ohne Schatten

Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter, Schlosspark Theater, Berlin (Regie: Philip Tiedemann)

Von Sascha Krieger

Vor wenigen Wochen jährte sich die Konferenz von Évian zum 80. Mal Damals trafen sich Vertreter zahlreicher Regierungen, um über die Situation der verfolgten Juden im Einflussbereich Nazideutschlands zu beraten und vor allem über die Frage, wie ihnen zu helfen sei. Was schnell zum Kernthema führte: Wer war bereit, eine so große Zahl flüchtender Menschen aufzunehmen? Die Antwort war erschütternd. Am Ende gingen die Teilnehmer auseinander, die Grenzen ihrer Länder dicht, die Juden ihrem Schicksal überlassen. Auch jetzt ist Europa dabei, sich in der Abschottung zusammenzufinden, auch jetzt werden Grenzen dicht gemacht, die Augen geschlossen vor der Not, dem Leid, dem tausendfachen Tod flüchtender Menschen. Und auch jetzt gelten die gleichen Argumente: Würde man so viele „Kulturfremde“ aufnehmen, verlöre man nicht das eigene Land, wäre man nicht irgendwann selbst die Minderheit? Solche Sätze wurden damals offen geäußert und sie sind heute in immer mehr Ländern wieder Regierungspolitik. Dass das Évian-Jubiläum angesichts der gegenwärtigen Lage so wenig Beachtung fand, ist zweifellos symptomatisch. Die „rechtschaffenen“ Nationen mauern sich ein, überlassen Menschen in Not ihrem Schicksal, nehmen massenhaften Tod in Kauf. Und fühlen sich dabei auch noch im Recht.

Bild: DERDEHMEL/Urbschat

Einen kleinen Aspekt davon beleuchtete vor genau 60 Jahren Rolf Hochhuth in seinem kontroversen und erst Jahre später von Erwin Piscator in Berlin (übrigens an den gerade im abriss befindlichen Kudamm-Bühnen) uraufgeführten Stück Der Stellvertreter, in dem es um das Schweigen des Vatikans unter Papst Pius XII. zur Shoa geht. Über die historischen Ungenauigkeiten und Fehler des Werks ist ausgiebig geschrieben worden, was seinen Wert als Diskussionsbeitrag über die Frage, wann es notwendig ist, Haltung zu zeigen auch wenn das davon ausgehende Risiko nicht überschaubar ist, nicht schmälert. Das doppelte Jubiläum ist Dieter Hallervordens Schlosspark Theater Anlass genug, dieses Stück zurück auf die Bühne zu bringen. Wann, wenn nicht jetzt, da auch Juden zunehmend wieder Zielscheibe rechtsextremer Angriffe werden, da Wegschauen und Abschottung wieder zur Staatsräson werden? Philip Tiedemann, Zögling Claus Peymanns und dessen Stammregisseur am Berliner Ensemble, das sich bekanntlich im Dauer-Clinch mit Immobilienbesitzer Hochhuth befand, ist mittlerweile am Schlosspark aktiv und inszeniert das stück nun nach einer BE-Arbeit im Jahr 2000 zum zweiten Mal.

Dabei reduziert er das fast 400-seitige Riesenwerk konsequent: Acht Schauspieler*innen teilen sich die statt der ursprünglichen 45 nun nur noch 18 Rollen. Stephan von Wedels Bühne besteht aus schwarzen Blöcken und rechteckigen Bögen, die mal päpstliche Gemächer, mal Nuntiatur, mal Berliner Wohnung, mal Kneipe und mal SS-Quartier sind. Mittels Drehbühne gehen die Orte ineinander über, werden zu einer Welt. Wo gerade noch ein riesiges Kruzifix prangte, hängt im nächsten Moment schon eine Hakenkreuzfahne. Die unselige Verbindung von Unrechtsregime und Kirche, von Mörderstaat und moralisch-religiöser Institution macht diese topographische Gemeinsamkeit sinnig, wenn auch nicht übermäßig subtil sichtbar. Tiedemann lässt das Welttheater als intimes Schattenspiel beginnen. Da tritt der idealistische Priester und aufstrebende Vatikal Funktionär Fontana (pathostriefend: Tilmar Kuhn) aus dem Zuschauerraum auf die nachtschwarze Bühne. Hinter einer semitransparenten Wand singt eine Frau wie von fern und lange her die klage der Opfer. Ein Schatten nur, zu dem Fontana nicht (mehr dringen kann. Schatten denn auch die mörderische Baggage von SS und „Wissenschaft“, wenn sie bierselig die Shoa planen. Nur der „gute“ SS-Mann Gerstein, Inszenator der versuchten Intervention beim Papst, steht vor der Wand, die anderen grotesken Gestalten sind immer wieder zu Tableaux erstarrende Silhouetten. Ein Albtraum, der Schatten wirft. In die Gegenwart?

Bild: DERDEHMEL/Urbschat

In der Folge wird aus der großen Weltpolitik bei Tiedemann ein Kammerspiel, ein Intrigantenstadel in seelenlosen Intéreurs. Das wäre nicht schlimm, führte die Reduktion zu einer Konzentration statt zu einer Verzwergung. Die Schattenspiele werden aufegegeben, sämtliche abstrahierenden oder auch nur leicht irritierenden Ebenen wieder planiert. Selbst die zu Beginn noch subtil störende, Realitäten ins Wanken bringende Lichtregie (Florian Bojescul) und die Stachel ins dramatische Fleisch werfende Industrial Sounds und Kirchenglocken in ein Spannungsfeld setzende Regie (Henrik Kairies) scheinen irgendwann die Lust so verlieren, und so wirkt der Abend bald weniger konzentriert als verzwergt. zumal die Streichungen auch zu dramaturgischen Mängeln führen: So erscheint die Szene, in der Gerstein – in der Darstellung Oliver Nitsches zunächst reiner Effekt, wenn er beim ersten Auftritt ansatzlos losbrüllt und so klar macht, wie wichtig und dramatisch das alles sei, später nuancierter und sogar so etwas wie eine Figurenzeichnung andeutend – enthüllt, dass er einen Juden versteckt, seltsam routiniert heruntergehastet, passt der Ortswechsel von Berlin nach Rom überhaupt nicht. Gerade noch hatte sich Fontana zuversichtlich gezeigt, dass der Papst Haltung zeigen würde, da lamentiert er in der nächsten Szene über dessen Schweigen.

Doch das sind kleine handwerkliche Fehler, die Crux des Abends ist eine größere. Statt intimem spannungsreichem Kammerspiel wird posiert, was das Zeug hält. Kohns Fontana ist Mensch gewordenes Pathos, Martin Seiferts Kardinal ein aasig aufgeplusterter Klischeepolitiker mit Hang zur karikaturesken Lächerlichkeit, Georg Preusses Pius ein zuletzt weinerlicher, kleinlich machtbewusster Intrigant, ganz klein in übergroßer Pose. Tiedemann überzeichnet, ohne den realistischen Grundgestus aufzugeben und macht damit seine Figuren zu Pappkameraden. Inhaltlich setzt er durchaus valide Akzente, gibt etwa des Kardinals erschreckernder Vision eines durch Hitlers geeinigten Europas als Gegenpol zur angeblichen Schwäche liberaler Demokratien viel Raum – und verpasst doch die eindeutigen Anknüpfungspunkte ans Heute, wo beispielsweise ein Viktor Órban die liberale Demokratie als Feindbild ausgerufen hat. Die Soutanen und Uniformen (von Wedel) bleiben Kostümfest, ein Blick ins Jetzt aus. Dazu passt auch, dass die einzige Frau im Ensemble (Krista Birkner) nicht mehr tun darf, als stimmungsvoll traurig zu singen. Ansonsten bleibt das ein Boys‘ Club – was niemanden zu stören scheint. Aber eben zum rückwärts gewandten Blick des Abends passt. Genüsslich wird das plakative Gegeneinander von Gut und Böse durchgespielt, doch versagen beide seiten in ihrer abziehbildhaften Eindeutigkeit, die es dem Zuschauer erlaubt, sich wissend zurückzuziehen und nicht weiter nachzudenken, wie die pragmatisch auch das Entsetzlichste zu rationalisieren vermögenden Denkmuster, die das stück vorführt, längst wieder am Wirken sind. Am Ende entledigen sich die Spieler ihrer Oberbekleidung, ziehen sich hemdsämelig zurück in den Kreuzkasten und geben ein Guernica-Tableau en miniatur. Der Schrecken bleibt fern, die Schatten der Vergangenheit sind längst verschwunden.

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