Der Text eine klaffende Wunde

Heiner Müller: Die Hamletmaschine. Ein Projekt des Exil Ensemble, Maxim Gorki Theater, Berlin (Regie: Sebastian Nübling)

Von Sascha Krieger

„Mein Drama findet nicht mehr statt“, sagt Hamlet in Heiner Müllers Über-, Zu-, Nach- und Gegenschreibung non William Shakespeares Klassiker. Die Aufstände sind gescheitert, Europa in Ruinen, von Gräbern bedeckt, Kunst und Denken gegen die Wand gefahren. Bevor es das – durchaus positiv gemeinte – Wort vom „Ende der Geschichte“ gab, rief Müller es aus. Das Ende des Fortschritts, des Dramas, der Hoffnung. Ein (post)apokalyptisches Geschichts- und Geschichtenende. Doch er lag falsch. „Am 3. Februar, 12 Uhr fand mein Drama vor dem Präsidentenpalast statt“, hält Ayham Majid Agha dagegen. Der Syrer ist Leiter des Exil Ensembles des Maxim Gorki Theaters, das auch derzeit sieben Mitgliedern besteht, die aus Syrien, Afghanistan und Palästina stammen. Er hat drei „Kommentare“ zu Müllers zehnseitigem Theatermonolith beigesteuert, Texte, die den starren, abweisenden Text in die Gegenwart holen und mit dieser konfrontieren, die das hermetische Gedankengebilde ankratzen, seine Schale aufbrechen, es zwingen, sich einer Realität zu stellen, mit der er mehr zu tun hat als es Heiner Müller wohl lieb wäre.

Bild: Esra Rotthoff

Denn die Kapitulation vor dem universellen Scheitern des Menschheitstraums vom allen zu Gute kommenden Fortschritt, vor der Illusion Kunst und Denken könnte einen wirksamen Beitrag leisten, die Welt besser zu machen, ist keine zynische Setzung eines gedanklichen Spiels, sie ist bittere, tödliche Wirklichkeit. Ebenso wie das wiederholte Anrennen gegen diese Wahrheit, ihre Nichtakzeptanz, der wütende Aufstand gegen sie. „Ich spielte das Theaterstück, dass sie sehen wollten“, sagt Agha. „Sie“, das sind die Unterdrücker, die Status-Quo-Bewahrer, die Geschichtsbeender. Dieses Theater ist Folterinstrument, Machtmittel, tödliche Kugel. Die Hamlets und Ophelias, die es spielen, so zählt er später auf, sind Opportunisten, Pragmatiker, Revolutionäre, unbeteiligte Opfer. Gemordete, Verschwundene, Verlorene. „Berlin ist eine Hafenstadt an einem Meer aus Blut, das bis nach Damaskus reicht“, sagt er. Die „Ruinen von Europa“, mit denen Müllers Text beginnt, sie sind ausgelagert. Sie stehen in Damaskus, in Aleppo, in Palmyra. Doch das Blut, es reicht bis zu uns, in Fernsehbildern und der Realität jener, die es bis hierher geschafft haben und doch nie ganz gegangen sein werden. Von Kain und Abel, die bei ihm die Gründer von Damaskus sind, spricht der ehemalige Professor. Die Ursünde des Mordens. Zufall, Unfall und doch nicht zu entschuldigen. Tausendfach wiederholt.

Auf der einen Seite dieses Abends steht die Konkretisierung. Der Kurzschluss von Müllers feindseligen Zeilen mit der viel brutaleren, hoffnungsloseren Realität einer Welt, die den Frühliing längst hinter sich ließ. Auf der anderen die größtmögliche Distanz. Horrorclowns bevölkern den schlichten schwarzen Bühnenkasten, ein viel zu großes und viel zu kleines Grab (Bühne/Ausstattung: Eva-Maria Bauer). Ein schwarzer Gaze-Vorhang ist Sinnbild der Trennung, der Dissoziation, der Entfremdung des Menschen von sich selbst. Darauf Müllers Worte, die mal unverständlich verzerrt hervorgewügrt werden, mal in Arabisch erklingen, dann wieder in gebrochenstem Deutsch. Sprachmaterial, fremd, feindlich, nicht zu bewältigen, aber vielleicht niederzuringen. Groteske Gestalten versuchen es. Sie führen Pantomimen auf: Morde und Suizide, ein distanziert klatschender Herrscher und seine Helfershelfer, aber auch Steinewerfer, Trauernde. Frauen werden, ganz gemäß von Müllers Forderung, die Menschheit zu beenden, zugenäht, der männliche Herrschafts- und Zerstörungswahn von einer Darstellerin mit Ballonpenissen persifliert.

Später werden die Clowns zu Geistern, mechanisch in Alltagserinnerungen gefangen, Schatten einer Banalität, die man sich längst nicht mehr leisten kann. Ein groteskes Schattenspiel, mal grell, mal gespenstisch, mal im Vordergrund, mal halb verdeckt im Raum der Verdrängung. Dazu kleine Akte des Widerstands: Da postiert sich Tahera Hashemi mit einem riesenhaften Hammer herausfordernd auf der Bühnen, wird im chorischen Zwie-(Selbst)gespräch Müllers Frauenbild hinterfragt, sein nihilistischer Pessimismus ersetzt durch ein Aufbäumen, das um sein Scheitern ebenso weiß wie um seine Notwendigkeit. Da fliegen die unsichtbaren Steine, wo gerade eine Leiche entsorgt wurde. Die Ruinen Europas sind kein Ende, sondern ein Anfang, sie führen zu neuen Ruinen, die erneute Anfänge gebären. Der Teufelskreis ist ein Kreislauf des Lebens. Und des Sterbens. Und der Geburt. Die Horrorclowns sind verzerrte, ins Groteske entstellte Spiegelbilder einer selbstzerstörerischen Menschheit, aber auch solche Aufbegehrender, die Ordnung Herausfordernder, den Zerfall nicht Hinnehmender. Am Ende steht Hashemi auf leerer Bühne und spricht die Worte von Müllers Elektra. Ein Engel der Vernichtung, einer Vernichtung, die erst Erneuerung oder mindestens deren Illusion möglich, ja, denkbar macht. Es ist nicht vorbei, weil der Tod noch nicht genug hat. „Mein Hirn ist eine Narbe“, heißt es bei Heiner Müller. Dieser Abend reißt sie auf, macht sie in seiner Verschränkung von brutaler Vergegenwärtigung und größtmöglicher Distanzierung, in den Text schier zerreißendem Spagat, wieder zur klaffenden, offenen, blutenden Wunde, die dieser Text auch nach 40 Jahren noch sein kann.

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