Unter dem Schnee

Rimini Protokoll (Helgard Kim Haug, Stefan Kaegi): Weltzustand Davos (Staat 4), Schauspielhaus Zürich / Haus der Kulturen der Welt, Berlin

Von Sascha Krieger

Irgendwann greifen sie zu Schneeschaufel und Besen, die fünf „Expert*innen des Alltags“, die durch Rimini Protokoll’s zweistündigen Abend führen. Sie räumen den (Kunst-)Schnee weg, der die manegenartige Spielfläche bedeckt. Ist er weggeräumt, ist der Blick freigegeben auf das, was darunter liegt: eine Karte von Davos, ehemals Tuberkulose-Kurort, unsterblich gemacht in Thomas Manns Der Zauberberg, heute Ort des jährlichen „World Economic Forum“ (WEF), einem Treffpunkt der Mächtigen aus Politik und Wirtschaft und längst Symbol für eine globalisierte Welt, die vermeintlich von ungewählten und undurchsichtigen Eliten regiert wird. Eine offen sichtbare Weltverschwörung und das wahre Machtzentrum unserer Zeit. Es ist der Moment, in dem das Grundprinzip des Theaters von Rimini Protokoll deutlich wird: die Oberflächen weg räumen, den Blick freizuräumen und dem Zuschauer selbst zu ermöglichen, genauer hinzuschauen. Und es ist auch der Moment, an dem deutlich wird, warum dieser spezifische Abend eher scheitern wird. Denn der Blick ist ein zweidimensionaler, gesteuerter und weitgehend passiver. Die Perspektivverschiebungen, die Zuschauerentscheidungen, die eine eigene Positionierung erfordern und bedingen, die Fragmentierung des Blickes, die den Zuschauer zwingen, sich das Gesamtbild selbst zusammenzusetzen und zu entscheiden, welchem Blick man eher folgt, all das, was die stärksten Rimini-Abende ausmacht, bleibt an diesem weitgehend aus.

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Bild: Benno ToblerDas hat mit der Grundkostellation zu tun. Das Publikum sitzt um die Manege herum, der Blick geht von außen nach innen, wie im klassischen Guckkastentheater. Die Asymmetrie bleibt, auch wenn sich Rimini Protokoll und Akteur*innen redlich bemühen, die Gegenrichtung aufzumachen. Denn eigentlich sollen wir ja die Akteure sein. Denn jeder Zuschauer repräsentiert einen Teilnehmer des tatsächlichen Weltwirtschaftsforums, einen Top-Manager oder Großinvestor, in jedem Fall einen Mitspieler in der Arena der Globalisierung. Jeder hat eine Konferenzmappe unter dem Tisch mit Namensschild und Informationen über die Person, die er oder sie repräsentiert, ihr Unternehmen, seine Bilanz. Immer wieder geht das Spotlight auf einzelne dieser Mächtigen – oder besser auf die armen Zuschuer*innen, die diese repräsentieren. Das sorgt für reichlich Komik, das Kichern hilft aber auch, nicht so genau zuzuhören, was die fünf in der Manege über die so dem Kollektiv Entnommenen zu erzählen haben. Das ist auch nicht weiter schlimm, denn meist geht es um kurze Schnappschüsse des üblichen Anti-Globalisierungskatalogs: Umweltsünden, Steuertricks, Ausbeutung. Kurze Schlaglichter, die schnell vergessen sind, denn schon geht es weiter.

Es ist ein überraschend hektischer Abend, der sich wenig Zeit nimmt. Das ist nicht ganz verwunderlich, denn Rimini Protokoll wollen möglichst viel hineinpacken. Da geht es um den Ort selbst, der das WEF einst als Ersatz für die aus der Mode gekommene Tuberkulose-Wunderheiler-Funktion ersann und etablierte. Dafür steht Hans Peter Michel, ehemaliger Bürgermeister von Davos, der hier die Begrüßung übernimmt. Der Arzt Otto Brändli schlägt als Tuberkulose-Spezialist den Bogen zu den Ursachen der fortgesetzten Gefahr durch diese Krankheit (Tipp: Es hat mit der Globalisierung zu tun), Unternehmeerin Sofia Sharkova hilft, den WEF-Nachwuchs heranzuziehen, Soziologe Ganga Jey Aratnam, selbst ein Eliten-Spross, forscht über die Auswirkungen des weltweiten Rohstoff-Handels und referiert über die nicht unspannenden globalen Zusammenhänge, die letztlich die übliche Konklusion aufweisen: Der Westen beutet die so genannte dritte Welt aus. Nichts Neues also. Da klingen die bewusst in kurze nichtssagende Soundbites zerhackten Redeausschnitte prominenter WEF-Sprecher besonders hohl und leer. Leere Phrasen statt echte Versuche, die Welt, wie es das WEF großspurig reklamiert, besser zu machen. Erkenntnisgewinn: null.

Das gilt auch für die Pseudo-Interaktion, die hin und wieder eingestreut wird. Neben Ansprachen einiger Anwesender in ihrer Rollen durch die „Expert*innen“, die schnell verpuffen gibt es noch eine kurze Passage, in dem man sich – in der Rolle – mit einen Nachbarn unterhalten soll, über dessen Persona man einen kurzen Text in der Mappe findet. Das ist nicht mehr als ein kurz weggehastetes Feigenblatt einer Performance, die letztlich Interaktion nur vorgaukelt und nicht viel mehr ist als Frontalunterricht. Der Blick bleibt weitgehend unidirektional, der Zuschauer passiv, das „Wissen“ nicht erfahren sondern eingetrichtert.

Und dann ist da noch „Expertin“ Nummer fünf: Cécile Molinier, lange Jahre in der UNO in führender Position für Entwicklungshilfeprojekte verantwortlich. Sie steht für die Alternative zu Davos: Die UNO als Ort, der die Vielfalt der Welt fairer repräsentiert als das WEF mit seinem überproportionalen Anteil europäischer und nordamerikanischer Player – wie marginalisiert etwa der afrikanische Kontinent ist. Auch das ist keine große Überraschung. Molinier gehört immerhin einer der wenigen Momente, in denen das dominante Schwarz-Weiß-Denken ins Wanken gerät. Da erzählt sie, den „Nestlé-CEO“ ansprechend, von einem Projekt, das sie gemeinsam mit dessen Konzern umsetzen wollte und das am Widerstand anderer UN-Institutionen scheiterte. Da deutet sich an, dass ein besserer Weg in der Suche nach einem Zwischenraum, nach einem Zusammenwirken der zweifellos existenten unterschiedlichen Machtbasen – den staatlichen, politischen, wie den wirtschaftlichen – liegen könnte.

Doch schnell ertönt das Signal weiterzuhasten und die Grautöne verschwinden. Stattdessen wechselt der Zuschauer am Ende die Seiten, repräsentiert er plötzlich keinen Wirtschaftslenker mehr, sondern einen Staat, muss sich am Ende entscheiden, auf welcher Seite er steht: Unternehmen oder Staat. Die Wahl ist so eindeutig wie vorhersehbar, ebenso wie das finale eishockey-Spiel zwischen Wirtschaft und Politik, dessen Ausgang nur scheinbar offen ist. In den besten Arbeiten von Rimini Protokoll ist es am Zuschauer, seine Perspektive zu finden, sich leiten zu lassen und diese Leitung zu hinterfragen, sich ein Interpretations-Puzzle aus durchaus gegenläufigen Blickwinkeln zusammenzubauen. Das ist in Weltzustand Davos nicht der Fall. Hier fehlen die Zwischenräume, die zum Denken zwingen, hier fehlt die Reibung zwischen Perspektiven, die nicht zusammenpassen, sich gar widersprechen. Hier ist der Zuschauer Zuhörer, nicht Handelnder, Interpretationsempfänger statt selbst Interpretierender. Was umso unglücklicher ist, als wir ja die Agierenden darstellen sollen, die eigentlichen Hauptakteure dieses Forums, das hier eher zum Zirkus wird. Zu klar ist die vermittelte Weltsicht, zu eindeutig die zu erlangende Sicht auf die Dinge. Ist der Schnee weggefegt, kommt nur eine neue Oberfläche zum Vorschein. An dieser wird nicht gekratzt.

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