Das errungene Wir

Elfriede Jelinek: WOLKEN.HEIM. Und dann nach Hause, bat-Studiotheater, Berlin (Regie: Branko Janack)

Von Sascha Krieger

„Wer ist ‚wir‘?“ So beginnt eine Passage aus Thomas de Maizières Gatbeitrag zum Thema einer „deutschen Leitkultur“, erschienen auf Zeit Online im April 2017. In der Folge definiert de Maizière das deutsche „Wir“ über die, die alle nicht dazugehören. Gar nicht, wie jene, die sich „nur“ eine gewisse Zeit im Land aufhielten. Oder nicht vollständig wie die, „die seit langer Zeit hier leben, ohne Staatsbürger zu sein.“ Auch diese, so der Innenminister weiter, gehörten zu „unserem Land“, Teil des „Wir“ seien sie jedoch nicht. Elfriede Jelinek weiß das schon länger. Bereits vor 30 Jahren schrieb sie WOLKEN.HEIM, das, ersten Beispiel von Jelineks assoziativen Textflächen fürs Theater, um eben dieses „Wir“ kreist. Zunächst freundlich, Gemeinschaft konstituierend. Doch schnell kommt jene andere Seite des Wir dazu: das Ihr, die die nicht dazugehören und damit das Wir-Sein erst möglich machen. Ohne Abgrenzung vom „Anderen“ keine Identität. Keine individuelle und erst recht keine kollektive. Von Hölderlin bis zur RAF reicht das Textmaterial, das Jelinek aufschüttet. Von Identitätsromantik über Heldenpathos bis zu ideologisch grundierter Gewalt. Angesichts des Weges, den der deutsche Nationalismus von 1848 bis 1933 zurücklegte, kein unpassendes Spielfeld.

Auf dem es – wie stets bei Jelinek – immer auch und in erster Linie um die Sprache geht. In diesem Fall um ihre Rolle in der Bildung dieses „Wir“, dieser Identitätsbehauptung, und ihrer Aufladung, ihrer Umgestaltung zur Waffe. „Wir“ heißt immer „Ihr nicht“, da kann es noch so harmlos daherkommen. „Unser Haus, gefüllt mit unserer Sprache“. Die sich immer stärker einigelt. „Bei sich selbst sein“, „zuhause sein“, „hier“, die Schlagworte massieren sich wie eine militärische Formation vor dem Angriff. In Branko Janacks Diplominszenierung ist der Boden, auf dem das geschieht, ein Wohlstandsdeutschland, längst selbst zur Ideologie verkommen. Vier Spieler*innen, in edler Abendgarderobe gekleidet, erheben die Sektgläser auf dieses Wir, sich den Text hin- und herreichend, in reichlich überheblichem Pathos sprechend, signalisierend: Wir lassen nicht jeden rein. Das Publikum, jedoch, darf Teil sein dieser „Gemeinschaft“, ist es auch, ob es will oder nicht. Hier ist das wir, das „Nicht wir“ ist draußen. Die Zuschauer*innen waren aufgefordert, ebenfalls in Abendgarderobe zu erscheinen – was zumindest am zweiten Abend nur sehr eingeschränkt funktionierte – äußerliches Zeichen dieser Abgrenzung, die immer auch eine Überhebung ist.

So lange der Abend in Jelineks Ursprungstext verharrt, ist die Betriebstemperatur eine eher moderate. Die vier Spieler*innen (Sarah Hostettler, Xenia Noetzelmann, Gustav Schmidt und Laina Schwarz) tun ihr bestes und dürfen doch meist nur den Text aufsagen. Wenn sie Vogelmasken aufsetzen und mit verzerrt dumpfer Stimme sprechen, werden die positiven „Wir“-Definitionen zu Ressentiments und Drohungen, dunkles Kellergewölbe der „deutschen Seele“. Zwischendurch wird geraucht oder Federball gespielt, Akte der Selbstgenügsamkeit, des Sich Einmauerns im Blick stets nur auf sich selbst. Ansonsten köchelt das ganze auf Sparflamme, bleiben Jelineks Assoziationsflüge am Boden, trockene Sprachübungen einer Gesellschaft im Ab- und Ausgrenzungsmodus.

Womit wir beim spannendsten narrativen Instrument zumindest dieses ersten Teils wären: Moïra Gilliéron und Cleo Niemeyers Bühne. Sie besteht nur aus einem Element: einem schwarzen Kubus aus verspiegelten Wänden in der Bühnenmitte. Hier reflektiert sich die Wir-Gesellschaft, baut Scheingemeinschaften – die Spieler*innen bleiben stets auf Distanz zueinander, die sich im Lauf des Abends eher noch vergrößert. Das „Wir“ als Konstrukt, um das Vielfältige nicht wahrnehmen, sich mit ihm nicht auseinandersetzen zu müssen. Später schieben sie die Wände auseinander. Zunächst zu einer Mauer, in der sich das zugehörige Publikums-Wir spiegelt, später vereinzelt im Raum. Am Ende schieben sie sie wieder zusammen, diesmal mit den Spiegelflächen nach innen. Nun werden die vier endlich Gemeinsacht, eine, die sich einigelt, einsperrt, vor der Außenwelt verschließt, vereint nur im Ausschluss des Außen.

Doch das funktioniert natürlich nicht, die Welt ist Draußen wie Drinnen. Davon spricht Und dann nach Hause, eine Art Epilog, den Jelinek 16 Jahre später für eine Peymann-Inszenierung des Stücks nachschob. Und hier beginnt der Abend zu leuchten. Denn gesprochen, nein, gelebt, errungen und errannt, erschwitzt, erkämpft, erstritten, erschrien, erdiskutiert, wird er von der Ausnahmeschauspielerin Stefanie Reinsperger. Mit Wiener Akzent wuchtet sie den Text als Suchbewegung auf die Bretter, als Frage- und Antwortspiel eines Ichs, das sein Wir verloren hat und doch immer weiter behauptet. Wo sind wir gelandet, wo und was ist dieses Zuhause, das wir uns einklagen, wo steht „unsere“ Jugend, wo findet sie ihren Platz inmitten all der Identitätsdefinitionen, die ihre Vorgänger wie Pflöcke in den „deutschen Boden“ gerammt haben. Sie zetert und wütet, streitet mit sich selbst, hinterfragt sich gibt jeder gedanklichen Wendung Ausdruck, Gefühl, Körper, zerlegt den Text, indem sie ihn aufnimmt, dekonstruiert ihn nicht, sondern legt die in ihm enthaltene Fragmentierung seines Diskurses frei.

Sie führt den Kampf um die Möglichkeit einer Identität mit jeder Körperfaser, trotzig, in Rage, die ultimative Wutbürgerin. Sie greift nach den Händen von Zuschauer*innen und betet ihnen vor: „Es ist ganz wichtig, an sich selbst zu glauben und sich selbst treu zu bleiben.“ Phrasen als Rückzugsort und Mantra, das das Getöse der nagenden Fragen ruhigstellen soll. Denn die Tradition, auf die sich das „Wir“ so gern beruft, ist eine Konstruktion, eine Erkenntnis, die in den erschrocken geweiteten Augen Reinspergers aufscheint. Und die sie mit aller Sprachwucht niederringt. Am Ende ist auch sie bereit, in den Kubus zu gehen. Das „Wir“ ist gerettet, die „Leitkultur“ in Takt. Zumindest auf diesen vier Quadratmetern.

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