Lost in Abstraction

Kornél Mundruczó / Proton Theatre: Winterreise, Proton Theatre, Budapest / Hebbel am Ufer (HAU1), Berlin (Regie: Kornél Mundruczó)

Von Sascha Krieger

Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise zählt nicht nur aus musikalischen Gründen zu den bekanntestem, beliebtesten und einflussreichsten Werken der deutschen Romantik.Mit den 24 Liedern eines einsamen Wanderers, die mit einem Abschied beginnen und ohne Ankunft enden, gelang dem damals 30-Jährigen ein eindrucksvolles Porträt existenzieller Einsamkeit, des Fremdseins in der Welt, ein noch heute ultimativ erscheinender Ausdruck des Nicht-Dazugehörens. In einer Zeit, in der dieses Gefühl, in der die existenzielle Unsicherheit des Einzelnen wieder zunimmt, erfährt die Winterreise, obwohl sie nie weg war, eine Renaissance, die damit zu tun hat, dass sie direkt mit der unsrigen Zeit zu kommunizieren scheint. Elfriede Jelinek hat, von ihr inspiriert, ein gleichnamiges Stück über das Fremdsein des Menschen in der Welt und in sich geschrieben, am Gorki Theater war sie Anstoß für eine biografische Arbeit über Fluchterfahrungen. Der ungarische Film- und Theatermacher Kornél Mundruczó, ein Seismograf und nicht gerade zimperlicher Analytiker gesellschaftlicher Brüche und Verwerfungen, geht jetzt noch einen Schritt weiter: Er schließt Schuberts Zyklus mit der Flüchtlingsbewegung der vergangenen Jahre kurz, macht Schuberts an Liebenskummer und Weltschmerz Leidenden selbst zum Refugee.

Bild: Sascha Krieger

Dessen Existenz eine temporäre, flüchtige ist. So wirkt auch die Bühne wie skizziert. Ein wie achtlos hingeworfener Kasten mit weißem Teppichboden, der eine Schneedecke andeutet, ein zerschlissenen Sofa, das allen Besitz des Flüchtenden enthält, eine Toiletteschüssel, der auch als Waschbecken dient, ein umgestoßener Einkaufswagen. Der Sänger János Szemenyei ist dieser Flüchtende, der inmitten dieser Nicht-welt, dieses Warteraums im Nichts die Schubert-Lieder interpretiert. Begleitet vom neuen konzertorchester berlin werden sie bei ihm zu rohen, schroffen, zuweilen fast aggressiven Brocken eines ungehörten Leidens. Das Orchester spielt rau, brüchig, kippt immer wieder ins Dissonante. Kein Frieden nirgends. Der Einsame bleibt allein, nur einmal hat er Gesellschaft – da wird er von einem Polizisten kontrolliert.

Aber natürlich hat er Leidensgenossen. Die erscheinen hinter ihm auf einer quadratischen Videowand. es sind echte Refugees, Gestrandete, Wartende, Ungewollte. Man sieht Bilder eines desolaten, trostlosen Flüchtlingsheims, beobachtet die dort Lebenden beim Alltag, hochformalisierte Szenenfragmente, die oft das, was der Darsteller auf der Bühne tut (Essen, Schlafen) spiegeln – oder umgekehrt. Zu sehen sind einzelne Gesichter, regungslos, sie schauen in die Kamera, bleiben mitten in der Bewegung stehen, senken den Kopf, schauen aus dem Rahmen hinaus auf die anderen, die da sein könnten, in Einzelbildern oder in multiplen Splitscreens, eine anonyme Masse das gleiche Nichtleben Führender. Das ist klug gedacht, technisch stark umgesetzt, visuell wie formell makellos. Aber es lässt auch ungemein kalt. Die formale Strenge dieser Anordnung prallt auf die gewollte Leidensdramatik der musikalischen Ebene und findet keinen Anschlusspunkt.

Alles bleibt Behauptung, die Menschen hinter den Gesichtern, die Mundruczó wie Masken einsetzt, werden nicht sichtbar, bleiben auf Distanz. Das ist offensichtlich Teil des Plans, hält aber das Publikum auf Abstand. Was Mundruczó wohl auch selbst spürt. Also schiebt er eine Sequenz nach, in der Flüchtlingskinder einer Katze hinterherjagen, um mit ihr zu spielen. Und weil das noch nicht reicht, gibt es noch echte Aufnahmen riesiger Refugee-Züge auf ungarischen Autobahnen. Doch auch diese dürfen nicht direkt wirken und werden gegengeschnitten mit Aufschriften auf Häusern und Straßen, zynischen, abweisenden, bitter ironischen. Der Wille zur Formalisierung, zur Abstraktion setzt sich durch, aber er findet keinen weg, zum Zuschauer zu sprechen, auch weil die Ebenen – das Bühnen-„Geschehen“ mit dem Vortrag der Winterreise und die pseudodokumentarischen (weil sorgfältig inszenierten und komponierten) Bilder im Hintergrund nicht zueinander finden. Die Abstraktion des Realen und die versuchte Authentifizierung des Künstlerischen treffen sich nicht, sondern schießen aneinander vorbei. Da bleibt eine Leerstelle, die jene, um die es eigentlich gehen soll, nicht sichtbar macht, sondern eher verdeckt. Da triumphiert das Handwerk über die Kunst.

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