Killing us softly

Jérôme Bel: The show must go on, Volksbühne Berlin (Regie: Jérôme Bel)

Von Sascha Krieger

Wie geht es eigentlich Berlins neuer Eventbude am Rosa-Luxemburg-Platz (der im Übrigen dringend einen gentrifizierten neuen Namen bräuchte)? Zuweilen scheint es so, als betrachte Neu-Intendant Chris Dercon die ihm entgegengeschleuderte Litanei der immer gleichen Ausverkaufsvorwürfe als eine Checkliste, die es abzuarbeiten gilt. Da passt die aktuellste, nun ja, Premiere wunderbar ins Bild. The show must go on ist eine 16 Jahre alte (Check!) Arbeit des Regisseurs und Tanztheatermachers (Check!) Jérôme Bel (internationaler Künstler – Check!), die seitdem durch alle Ecken der Welt tourt (Check!). Mehr Eventbude geht nicht! Oder vielleicht doch? Dazu müsste man jedoch genauer hinschauen, was gerade im Berliner Kulturk(r)ampf nicht so angesagt ist. Tut man es trotzdem, findet man schnell heraus, dass das mit der Recycling-Kunst doch etwas schwieriger ist. Denn die Produktion „tourt“ eigentlich nicht – sie wird nur an unterschiedlichen Orten immer neu aufgelegt. In der Regel mit lokalen Ensembles. Oft gemischt, mal nur Laien, auch Produktionen mit behinderten Menschen gab es. In Berlin sind es jetzt Mitarbeiter*innen und Freund*innen der Volksbühne. Ein Theaterarzt, eine Bühnenbildnerin, eine Kassenmitarbeiterin. Professionelle wie Amateur-Tänzer*innen sind dabei, ein Abiturient, die Schauspielerin Anne Tismer, Freund*innen von Mitarbeiter*innen des Abenddiensts. Kommerzialisierung? Gesichtslose Eventkunst?

Bild: David Baltzer

Der Abend beginnt mit einer Verweigerungshaltung. Dunkel bleibt die Bühne. Gerade ist ein schluffiger Mann mit strähnigen langen Haaren zu einem vor der Bühne aufgebauten Pult geschlichen, einen Stapel CDs auf dem Arm. Er legt die erste ein. „Tonight, Tonight“ aus der West Side Story. Nichts passiert. Lange Pause, die CD wird geweckselt. Wieder Musical. „Let the Sunshine In“ aus Hair. Langsam dreht der Mann im roten Pulli das Licht auf. Ah, ok, Sonnenaufgang. Dann die Beatles, „Come Together“. Und siehe: Sie kommen zusammen, die 25 Performer*innen, stellen sich auf die Bühne bleiben stehen, regungslos. Mehr Verweigerung. Und Zeit für Blicke, Zeit, die Körper, die da stehen wahrzunehmen, alte, junge, große, kleine, männliche, weibliche. Vor allem: individuelle. Manche blicken scheu, andere herausfordernd, einige freundlich, andere eher abweisend. Ist das noch echt oder schon Spiel? Oder andersherum? Das Gesicht, stets einzigartig und undurchdringbar, hat es Jérôme Bel angetan. Hier schwebt es, vervielfacht und stets vereinzelt im Raum, über diesen reglosen Körpern. Die dann auf David Bowies Anweisung „Let’s Dance“ hin genau das tun, so lange sie gilt. In den Strophen sind sie wieder bewegungslos. Einzelne, alltägliche, nichtige, übersehene Gesten, Grundelemente von Bewegung dann, bis zur Erschöpfung wiederholt und ins Groteske gesteigert, mit verzerrtem Grinsen performt, zu Reel 2 Reels „I Like to Move It“. Verzerrung des Natürlichen, Verkünstlichung, Kunst. Oder Maschine? Der Körper als pure Mechanik. Tanz oder dessen Verweigerung?

So geht es weiter: Zu „My Heart Will Go On“ wird die berühmte Schiffsbug-Szene aus Titanic nachgesetellt, bevor das Ensemble im Boden versinkt, zu Nick Caves „Into my Arms“ fällt man sich in die Arme, mechanisch, gespielt – oder vielleicht doch innig und ehrlich? – bei „Private Dancer“ tanzt der DJ allein im Spotlight, zu „Ballerina Girl“ nur die Frauen, bei „Imagine“ wird es ganz dunkel, zu „La vie en rose“ pink, bei „The Sound of Silence“ still. Einfache Illustrationen zu Klassikern der Pop-Geschichte. Schnell durchschaut, bis zum Songende konsequent durchgezogen. Irgendwann kriegen alle Kophörer, singen die jeweiligen Refrainzeilen mit. Da wird das Grundprinzip des Abends mal eben auf der Metaebene entlarvt und kommentiert, bevor der Modus operandi wieder aufgenommen wird. Überhaupt ist das Gemachte stets sichtbar. Die langen CD-Wechsel-Pausen, die plakativ aufgekosteten Wartezeiten der Performer*innen bis zum nächsten Song, die Einfachheit der visuellen Illustration des allzu Bekannten. Hier wird – das ist für Bel nicht Untypisch – das Theatrale so sehr ausgestellt, dass alle überkommenen Theaterkonventionen ad absurdum geführt werden. 2001 in Paris war das noch ein Skandal. Das ist heute nicht mehr der Fall.

Und doch funktioniert der Abend auch hier und heute. Weil er seine konsequente Dekonstruktion des Erwarteten kongenial kreuzt mit seinem Gegenteil, der Erfüllung von Erwartungshaltungen. Es ist eine Greatest-Hits-Show, die ihr illustratives Prinzip bis zum Ende, wenn die Performer*innen zu „Killing Me softly“ langsam zu Boden sinken und bei „The Show Must Go On“ wieder aufstehen, durchzieht. Und die zugleich das Genre, in dem sie sich aufhält, das Tanztheater, lustvoll und mit viel Humor, ohne Scheu auch vor leicht infantilen Gags, dekonstruiert, den Theaterraum als solchen bis zur Lächerlichkmachung entlarvt, den Konsens zwischen Bühne und Publikum aufkündigt. Da wird der Zuschauer selbst zum Performer, im gleißenden Licht angestarrt vom Ensemble bei „Every Breath You Take“, zum Mitsingen verführt in den stillen Passagen von „The Sound of Silence“. Da kehrt sich der Blick um oder wird zumindest unsicher. Der eigene wird zurückgeschleudert, aus Gesichtern, die längst ihren eigenen Charakter gewonnen haben, ohne je ein Wort zu sagen. Da ist die Gemeinschaft der Musik, aber auch die Individualität des sich nicht einpassen lassenden Einzelnen.

Der Abend feiert das menschliche Gesicht und den menschlichen Körper in seiner Einzigartigkeit wie als kollektive Kraft. Und er feiert ihn nicht zuletzt durch seine wiederholte Abwesenheit. Die uns zurücklässt. Mit unseren Gesichtern, unseren Körpern, unseren Stimmen. Es ist ein Abend, der in enervierend plakativer Eindeutigkeit daherkommt und so komplex, so ambivalent, so widersprüchlich und fluide ist, weil er diese Eindeutigkeit nie aufgibt. Er ist sein Gegenteil, weil er in erster Linie das ist, was er zu sein scheint. er erfüllt Erwartungen und untergräbt sie gleichzeitig. Er macht die Gesichter und Körper unergründlich und legt sie damit offen, macht das Publikum zum distanzierten Beobachter und zieht es genau dadurch, subtil und perfide, hinein. Am Ende, die Performer*innen sind gerade aufgestanden, verbeugen sie sich schon, mitten im Song. Die Show geht weiter. Und wer ist hier eigentlich der Performer? The show must go on ist ein Abend, der ratlos zurücklässt. Und glücklich macht. wenn man diesen Menschen bald wieder begegnet, im Abenddienst oder an der Kasse, wird der Blick ein anderer sein. Kunst vermag das.

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