Schwarz ist Weiß und Weiß ist Schwarz

Robert Wilson: LUTHER dancing with the gods, Rundfunkchor Berlin / Pierre Boulez Saal, Berlin (Regie: Robert Wilson)

Von Sascha Krieger

Eigentlich schien das Kapitel Robert Wilson in Berlin ja abgehakt. Mit Claus Peymanns Intendanz am Berliner Ensemble ging auch das Engagement der Regielegende am Haus zu Ende. Da braucht es schon den Reformator persönlich, um Wilson noch einmal in die Stadt zurückzuholen, die in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten gehörte. Anlässlich des Lutherjahrs 2017 lud der Rundfunkchor Berlin, eines der besten Vokalensembles der Welt, den gebürtigen Texaner zu einer gemeinsamen Arbeit ein. Leben, Tod, Religion und 500 Jahre Kunst- und Menschheitsgeschichte: Wenn es um so Großes geht, kann auch ein Robert Wilson schlecht nein sagen. Und Großes will der Abend. Er paart Luther, den Geschichtsveränderer, den Aufbrecher abendländischen Denkens mit einem, der nicht nur glühender Lutheraner war, sondern zumindest in der Musikgeschichte eine ähnliche Rolle spielte wie der ehemalige Augustiner-Münch: Johann Sebastian Bach. Da kann man dann auch gleich „all in“ gehen, wie man beim Poker sagen würde. Ein Schnelldurchlauf durch die Bibel – vom ersten Buch Mose bis zur Offenbarung des Johannes. Wir beginnen bei der Geburt und enden beim Tod noch lange nicht. Nein, Kleckern ist bei Wilson ohnehin nie angesagt.

Bild: Lovis Ostenrik / Rundfunkchor Berlin

Dabei ist schon der Raum eine Herausforderung. Der Pierre Boulez Saal ist eine Ellipse inmitten eines Rechtecks, ein intimer Ort für Kammerkonzerten, der schon bei Orchesterwerken etwa Franz Schuberts an seine Grenzen kommt. Da ist das Potenzial für Wilsons berühmte, bildermalende Bühnenerfindungen eingeschränkt. Im Zentrum steht hier ein schwarzes Oval, mit zwei parallelen elliptischen Lichtbändern am Rand, die eine Art Laufbahn markieren. Später malen unzählige Lichtpunkte Linien und Kreise, ein immer engmaschiges Netz. Das Universum, die unergründlich verwobenen und zugleich kreisenden Bahnen des menschlichen Lebens, aber auch die geometrische, mathematische, wissenschaftliche Ordnung aller Existenz – das alles ist beim strukturell, architektonisch denkenden Bühnenbildner Wilson, der er eben auch ist, mit einfachen Mitteln höchst assoziativ verwoben. Da braucht er keine große Theaterbühne, sondern reicht ein Oval inmitten eines Konzertsaals.

Auch weil er den wichtigsten Teil seiner Palette zur Verfügung hat: das Licht. Bei Wilson ist die Dunkelheit der Urgrund, das Licht Leben. Sie regieren auch hier. Immer wieder kehrt das Dunkel zurück, wird die Bühne in fahles Zwielicht getaucht, bilden Spots Lichtinseln für einzelne Figuren inmitten eines riesigen schwarzen Nichts. Mag für Luther im Anfang das Wort gewesen sein, ist es für Wilson das Licht. Schwarz und Weiß finden sich auch in den Kostümen wieder – mit einiger Ambivalenz: So trägt der Chor, der Bachs göttliche Musik intoniert, ebenso schwarz wie die groteske Figur eines gefallenen Engels, werden weiß gewandet Massakerszenen nachgestellt und weiße Gewänder mit Blut beschmiert. Schuld und Unschuld liegen nicht nur nahe beieinander, sie sind ein und dasselbe.

Die Bilder, die Wilson findet, sind nicht selten Gemälden nachgestellt: Da ist die Steinigung des Papstes mit Brocken, auf denen die Namen der Evangelisten geschrieben sind (ein antiprotestantisches Bild von Girolamo da Treviso), die Endzeitvision eines Hieronymus Bosch, dessen Vogelmensch Wilson zum Leben erweckt, oder Hans Holbeins Bauerkriegsschlacht, die hier weißgewandete Chorsängerinnen mit spitzen Stücken nachstellen. Es sind Gewaltbilder, abstrakt stilisiert, eingefroren, mit Wilsons typischen verfremdet verzerrten Grimassen und mathematisch gezirkelten Bewegungen. Die Geschichte der Menschheit ist eine der Gewalt – auch und gerade solcher, die religiösem Eifer entspringt. Den hier vor allem die griechische Schauspielerin Lydia Koniordou repräsentiert. Mit archaischer Wucht rezitiert sie Bibelpassagen vom Alten bis ins Neue Testament. Dazu spielt ein Kind (Serafin Mishiev) – für Luther Symbol für Hoffnung und Unschuld mit einer Miniaturhimmelsleiter. Später wird Koniordou einen längeren Abschnitt der Offenbarung des Johannes in die Dunkelheit schleudern – wie die Eröffnungspassagen in Altgriechisch – und der nun weiß gekleidete Junge den sterbenden Luther berühren, den Staffelstab übernehmen.

Bild: Lovis Ostenrik / Rundfunkchor Berlin

Diesen spielt, spricht Jürgen Holtz, ein Lieblingsschauspieler Wilsons, mit einer schlichten Düsternis und würdevollen Schwere, die um die Vergänglichkeit alles Irdischen weiß. Er spricht über die Hoffnung, die im Kindlichen steckt, zitiert aus Luthers Verteidigung mit stiller Widerständigkeit, überlässt das spielerisch Widerspenstige seinem jungen Alter Ego (auch hier ist der universelle Kreislauf angedeutet), während Koniordou auf lateinisch päpstliche Anklagen auf ihn schießt. Gegen Ende taucht auch Katharina von Bora auf, bügelt und fegt – mit einem Besen, der statt Borsten eine Bibel am unteren Ende trägt. Leben, Tod, Liebe, Gewalt, die Sehnsucht nach Bedeutung, nach Erlösung, all das wirft Wilson dem Publikum vor, in sperrig assoziativen Miniaturen, die illustrieren, reproduzieren, aber nichts erklären. Bildfragmente, die auftauchen und verschwinden. Ohne eine Spur.

Dazu die Musik. Vier Motetten Bachs stehen im Mittelpunkt. Der Chor singt im Raum: Hinter den Zuschauer*innen, auf den Treppen, auf der Bühnen. Gemeinsam oder in vereinzelten Gruppen. Die Musik separiert und ballt sich. Wie in Knut Nystedt Bach-Bearbeitung, die ein Lied des Komponisten in schwebende Klangflächen aufspaltet. In Steve Reichs „Clapping Music“, in denen sich das kollektive Klatschen auffächert, kanonisch wandert, u am Ende wieder zusammenzukommen. Das Enzelne ist das Ganze, das Ganze das Einzelne. Und so füllt der Gesang den Saal, weitet den Raum oder lässt ihn ganz klein werden, universell oder persönlich. Der Rundfunkchor, geleitet von Gijs Leenaars, bringt Bach mit einer Intinmität, einem Nuancen- und Farbereichtum zum Leben, dass er eine Unmittelbarkeit entwickelt, wie man sie lange nicht mehr gehört hat. Die extreme Nähe zum Hörer lässt einzelne Stimmen hervortreten, spaltet das kollektive Hören auf in eine Vielzahl individueller Erlebnisse.

Die Bilder illustrieren dabei nie, sondern bilden Kontrapunkte wie die gesprochenen Szenen. Das Ganze bedarf des Vereinzelten. Die Szenenübergänge sind zuweilen recht lang, aber auch die Spannungsabfälle, die Bruchstückhaftigkeit des Abends haben ihre Funktion, sind Gegenspieler der innigen Mediation über Liebe, Gott und Leben, des Zwiegesprächs mit dem Universum, des Ringens ums Menschsein. Bilder und Musik klaffen oft aufeinander, wenn Mord und Gewalt einer Liebenserklärung an Jesus gegenüberstehen. Dann ist Schwarz Weiß und Weiß Schwarz, wie Leben Tod und Gewalt Liebe ist. LUTHER dancing with the gods ist ein Abend, der das Publikum auf Distanz hält. Der sich widerspricht, in dem Bilder auf Musik prallen, Worte auf Licht. Eine folge von Fragmenten, die doch ein Ganzes sind, plakative Bilder voller Ambivalenzen. Wilson baut Assoziationsketten, die nirgendwo hin führen oder zum Kern der Welt. Es ist ein Abend, der abschreckt oder fasziniert, der den Zuschauer außen vor lässt oder hineinzieht, der Ablehnung erzeugt oder stillen Jubel. Im besten Fall beides. Denn in Robert Wilsons Universum sind sie eins.

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