Durch Raum und Zeit

Boris Charmatz / Musée de la danse: A Dancer’s Day / 10000 Gesten, Volksbühne Berlin (Flughafen Tempelhof, Hangar 5) (Regie/Choreografie: Boris Charmatz)

Von Sascha Krieger

Die beste Nachricht zuerst: Es geht endlich los. Nach zwei Jahren der Diskussionen, Anschuldigungen, Vorwürfe bis hin zur Hetze, der offenen Briefe und Petitionen, der Wahlkampfreden und Ausschussanhörungen, ist sie angebrochen, die Ära Chris Dercon an der Volksbühne. Und das heißt: Es darf endlich um Kunst gehen, es wird gespielt und ja, zunächst viel getanzt, statt nur noch darüber zu reden, ob diese Kunst überhaupt gemacht werden darf. Natürlich ist diese Ebene der – meist verweigerten – Diskussion nach wie vor präsent, aber die zweite, die des konkreten künstlerischen Schaffens, dem begegnet und das natürlich auch kritisiert werden kann, ist endlich vorhanden. Viel spricht Boris Charmatz, französischer Choreograph und die vielleicht wichtigste Künstlerpersönlichkeit im Team Dercon bei dieser – nach dem großen einmaligen Eröffnungsfest Fous de danse – ersten Produktion der neuen Intendanz, von der Volksbühne, wagt es immer wieder, dieses Wort für sich und die „neue Zeit“ zu reklamieren. Und natürlich klingt das in vielen Ohren – auch in denen des Rezensenten – noch immer seltsam. Dieses Team muss diesen Begriff erst noch für sich gewinnen – und herausfinden, wer das Volk, dem diese Bühne gehören soll, sein könnte.

10000 Gesten (Bild: Ursula Kaufmann)

Vergleichsweise jung, begeisterungsfähig und nicht zuletzt – und das wird den selbst ernannten Identitätsbewahrern, die glauben, um dieses Haus einen antiglobalistischen Kampf führen zu müssen, nicht gefallen – sehr international. Im Hangar 5 des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof, trifft sich die Welt, die Berlin seit Jahrzehnten anzog – was übrigens vor noch nicht allzu langer Zeit gerade in linken Kreisen noch als große Stärke der Stadt galt. Auch künstlerisch tut Dercon nichts, um den immer wieder vorgebrachten Argumenten entgegenzutreten. Ein „Tanzschuppen“ solle die Volksbühne sein, ein Gastspielhaus, eine „Eventbude“ in den Worten Claus Peymanns, ein Ort für international tourende Großkünstler wie eben Boris Charmatz. Alls dies widerlegt der Intendanzstart nicht. Das Konzept, das Dercon im Kopf hat, ist er gewillt durchzuziehen und die Stadt mit künstlerischer Qualität zu gewinnen. Den einfachen Weg zu gehen, kann man ihm zumindest nicht vorwerfen.

Auch wenn der sechseinhalbstündige (Volksbühnen-Länge!) Startabend sich alle Mühe gibt, das Publikum für sich einzunehmen. Um den Tag eines Tänzers soll es gehen. Und beginnt mit dem Aufwärmen: Kleine Gruppen bilden sich um die 24 Tänzer*innen, die später die Uraufführung 10000 Gesten tanzen werden. Um das Lockern und Erobern des Körpers geht es in den – je nach Tänzer*in sehr unterschiedlichen – Übungen, des eigenen zunächst. Aber schon hier ist Charmatz‘ Handschrift zu erkennen, denn der Fokus (zumindest ist das in der Gruppe, in der sich dieser Rezipient wiederfindet, der Fall) geht schnell in Richtung gemainsamer Bewegungsentdeckung, auf das Einstellen auf den anderen, das gegenseitige Vertrauen. Tanz istvfür Charmatz Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die nicht zur Beobachtung da ist, sondern den, der sich als Zuschauer definiert, einbezieht. Dies gelingt durchaus. Am besuchten Nachmittag/Abend lässt sich die Mehrheit der Anwesenden ins Warm-up einbeziehen, immerhin etwa die Hälfte nimmt dann am Workshop mit Charmatz teil, der, das macht der Franzose gleich klar, eigentlich eine Probe ist.

Um 10000 Gesten geht es, ein Stück, in dem sich keine Geste wiederholen soll. Eine kleine Zuschauer*innenversion wird einstudiert. Es beginnt mit kleinen alltäglichen Gesten, bezieht nach und nach Bewegung ein, lässt die Einzelgesten sich verbinden, es gibt Zartes und Gewalttätiges, ganz am Ende wird das Erarbeitete zweimal durchgespielt. Das Flüchtige, um das es in dieser Arbeit geht, wird konserviert und verschwindet doch sogleich. Wie die Gemeinschaft: auf der Tanzfläche findet sie einen experimentier-, einen Ausdrucksraum, der funktioniert, weil er gemeinschaftlich ist und doch einen individuellen Raum für jeden Einzelnen darstellt. Als es vorbei ist, ist auch die Gemeinschaft eine geplatzte Seifenblase. Oder eben nicht, denn vielleicht trägt so mancher etwas davon, in sich.

Raum und Zeit sind die Kernvektoren des Tanztheaters. Beide lässt Charmatz an diesem Tag durchaus variabel und immer sehr spielerisch erforschen. So geht es immer wieder um die Eroberung des Raums. Zum einen auf der Makroebene: Die unterschiedlichen Stationen finden an unterschiedlichen Stellen des riesigen Raums statt, den Ensemble und Publikum gemeinsam erkunden (wie e sie es auch schon beim Aufwärmen taten). Zum anderen im Detail: Vor allem ein Programmpunkt widmet sich dem Raum. Nach der gemeinsamen Probe findet ein Picknick statt. Das Publikum sitzt auf Decken, verzehrt Gekauftes oder Mitgebrachtes – allein dies schon eine Aneigung des Raums. Dazwischen tanzt Frank Willens vollkommen nackt ein Solo von Tino Sehgal, (Ohne Titel) (2000), eine Art Streifzug durch die Tanzgeschichte mit durchaus parodistischen, aber auch sehr intensiven Momenten, mal abstrakt, mal sehr mimetisch, vor allem aber eine Suchbewegung, die immer wieder abbricht, den Solisten zu immer neuer Orientierung zwingt und dazu, sich zu positionieren, künstlerisch und im Raum. Ein Spiel mit Gemeinschaft (Picknick) und Vereinzelung (Tänzer), das immer wieder kippt, instabil bleibt, Verletzlichkeit offenbart.

Kommen wir zur Zeit. Sie ist – linear definiert – das Grundprinzip von A Dancer’s Day. Sie streift durch den Tag eines Tänzers. Nach der Mahlzeit folgt die Ruhe. Zuschauer*innen und Tänzer*innen liegen auf den Decken, letztere singen sanft eine sehr gedehnte Fassung von Elvis Presley’s Can’t Help Falling In Love. Dnach folgt die Aufführung – von der später die Rede sein soll – dann die Party, der Hangar wird zum durchaus enthusiastisch aufgenommenen Techno-Club. Damit könnte man enden, doch will Charmatz, die Linearität dann doch brehcen. Also gibt es zu später Stunde noch einen Epilog. étrangler le temps  heißt das Duett, das Charmatz selbst auf einem rasch aufgebauten Podest mit Emmanuelle Huynh tanzt. Eine extrem verlangsamte Version von Maurice Ravels Boléro bildet die musikalische Kulisse. Bei ersterbendem Licht, das ausschließlich durch die Außenfenster kommt, bewegen sich Charmatz und Huynh in Superzeitlupe, dehnen (dem Titel der Choreografie entsprechend) die Zeit, versuchen sie festzuhalten, wie sie es auch mit einander tun. Man nähert sich, strebt auseinander, lässt sich aufeinander ein – der passive Körper, der sich auf den anderen verlassen muss, ist ein Leitmotiv – hebt und senkt sich zusammen. Am Ende ist die Zeit trotzdem vergangen und doch haben sich ihre Dimensionen verschoben.

Das gilt in gegensätzlicher Weise für 10000 Gesten, dessen Uraufführung das Zentrum von A Dancer’s Day bildet und die auch für sich allein zu stehen gewillt ist, was die auch zeitliche Ambivalenz dieser Produktion noch erhäht. 24 Tänzer*innen füllen die Fläche. Zunächst vereinzelt – eine Tänzerin eröffnet das Geschehen in der abendlichen Stille, bevor die anderen rennend den Bühnenraum erobern. Das Publikum sitzt in einer Voertelkreis-Arena-Tribüne, ein Provisorium, das aufs Erste von Francis Kerés Vision eines variablen und mobilen Bühnenraums übrig geblieben ist. Flüchtigkeit, so sagt es Charmatz im Website-Interview, steht im Mittelpunkt der Arbeit – und das Anrennen dagegen. Mozarts Requiem, an- und abschwellend, erklingt und bildet die Basis für diesen Kampf gegen die Vergänglichkeit. Jede Geste ist schon verschwunden, wenn sie soeben erst entstanden ist. Jede*r durchläuft seinen eigenen Erkundungsprozess. Fragile Gemeinschaften entstehen – mimetische (es gibt eine Geburtsszene) und abstrakte, sehnsüchtig Nähe suchende und gewalttätige.

Alltagsbewgungen stehen neben Körpererkundungen, die Einträchtigkeit sichende Formation neben verwirrenden Wimmelbildern des Disparaten. Der Raum weitet sich und schnurrt zusammen, verschiebt sich immer wieder, einzelne brechen aus Gemeinschaften aus oder fügen sich ein. Man tanzt in die Stille, geben selbige an, sucht das Vergängliche zuhalten durch wütendes Anlaufen, erstarrt in Resignation. Der Zuschauerblick wird kaum gesteuert, jede*r muss sich eigene Ankerpunkte setzen, seinen mentalen Weg finden. Das ist simpel gedacht und erzeugt selten die Intensität, die Charmatz wohl vorschwebte. auch bleibt das Publikum hier außen vor, beobachtet das Enstehen und die Unmöglichkeit von Gemeinschaft und hat doch aus eigenem vorherigen Erleben Referenzfolien, die sich dem Beobachteten überstülpen lassen. Und so wirkt 10000 Gesten eben auch, weil es Teil von A Dancer’s Day ist. Ein eklektischer Tag, dessen Gelingen stark am Zuschauer selbst liegt. Wer nur zuschaut, wird weniger mitnehmen. Auch das eine starke, durchaus provokative Setzung. Eine neue, andere Volksbühne entstehen zu lassen, ist keine Einbahnstraße, der Besucher – so das Versprechen – ein wichtiger Teil dieser gemeinschaftlichen Erkundung. Der Start ist zumindest nicht misslungen.

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