Was bleibt

Immersion – Rimini Protokoll (Stefan Kegi / Dominic Huber): Nachlass – Piéces sans personnes, Théâtre de Vidy, Lausanne / Staatsschauspiel Dresden / Berliner Festspiele

Von Sascha Krieger

„Who wants to live forever?“, sangen Queen vor gut 30 Jahren im ersten Highlander-Film. Eine Frage, die sich umkehren ließe: Wer will das nicht? Zu den Folgen des menschlichen Wissens um die eigene Sterblichkeit gehört seit je der Versuch, diese zumindest ein wenig auszutricksen, etwas, wie es heißt, zu hinterlassen, sei dies materieller, geistiger oder sonst irgendwie nachhaltiger Natur. Wie gehen wir dem sicheren Tod entgegen, was lassen wir zurück, wem und warum? Rimini Protokoll, genauer gesagt der Schweizer Stefan Kaegi, unterstützt von Dominic Huber, haben sich diesen Fragen gewidmet. Nachlass ist ein Rimini-typischer Erlebnisraum geworden, mit unterschiedlichen Stationen, welche die Besucher*innen durchlaufen und in denen sie sich mit dem vielleicht Einzigen auseinandersetzen sollen, das tatsächlich alle mehr als sieben Milliarden Menschen auf der Erde verbindet: dem Tod. Acht Räume gilt es zu erkunden, Erinnerungs-, Vermächtnisräume, geprägt von jenen Menschen, deren Geschichten wir dort hören. Da sind: ein Basejumper, ein Familienvater, der an einer Erbkrankheit leidet, eine alte Frau, die per Sterbehilfe aus dem leben scheiden will, eine ehemalige EU-Botschafterin, die mit einer Stiftung afrikanische Kultur fördert, ein schwäbisches Bankiersehepaar, eine Hobbyfotografin, ein seit 50 Jahren in der Schweiz lebender Türke, ein pensionierter Neurochirurg.

Bild: Samuel Rubio

Der Besucher betritt zunächst einen ovalen Warteraum. An der Decke eine Weltkarte, die durch Aufleuchten von Punkten anzeigt, wann irgendwo auf der Welt gerade jemand stirbt. Ein Wartesaal des Todes, funktional, spartanisch, kalt. Acht Türe gehen ab, über ihnen Countdown-Uhren, die anzeigen, wie lange die entsprechende Geschichte hinter ihnen noch daiuert, wieviel Zeit diesen im Zeitraffer erzählten Leben also noch bleibt. Ist sie abgelaufen, öffnet sich die Tür für 40 Sekunden, hat der Besucher Gelegenheit, in die jeweiliger Erzählung einzutauchen. Was er vorfindet, sind meist dem realen Leben der Erzählenden nachempfundene Räume: ein Bankerbüro über den Dächern Stuttgarts, eine gemütlich vollgekrampte Wohnkche, ein Kellerraum, in dem der Basejumper seinen Fallschirm packt, ein Lagerraum mit Kartons aus einem reichen Leben, ein muslimischer Gebetsraum, ein Motelzimmer oder ein kleines Theater, erinnernd an die Träume einer 12-Jährigen, die später so jäh wie brutal zerplatzten.

Das Grundprinzip von Nachlass ist die Verschränkung von An- und Abwesenheit. Die, um deren Geschichten es geht, sind körperlich nicht da und doch mit ihren Stimmen, ihrem Lebensraum, ihren Erzählungen voll und ganz präsent. Wie, die Besucher*innen, dagegen, füllen zwar den Raum physisch, gehören aber nicht wirklich hinein. Es sind nicht unsere Geschichten, nicht unsere Leben, um die es hier geht, wir sind Eindringlinge Fremdkörper, aber auch für das Projekt Weiterleben notwendige Zeugen. Denn wie soll eine Geschichte über den Tod hinausreichen, wenn sie keiner kört. Eine spannungsreiche Juxtaposition aus Präsenz und Absenz, Leben und Tod, deren Ambivalenz das Zeug hat, aus dieser Arbeit eine ähnlich intensive und ganz und gar persönliche Auseinandersetzung mit einem der ganz zentralen Themen des Menschseins zu machen, wie es der Gruppe etwa mit ihrem Kriegs- und Gewaltspielfeld Situation Rooms gelang.

Warum also gelingt dies Nachlass nicht einmal im Ansatz? Grund eins: Im Gegensatz zu Situation Rooms, wo sich der Besucher in unterschiedliche Rollen hineinbegab, Stellung beziehen musste, sich auseinandersetzte mit der Person, der Haltung, in die er gerade schlüpfte, ist Nachlass ein passiver Zuhör- und Zuschauraum. Man betrachtet auf dem Küchentisch liegende Fotos, probiert türkischen Honig, schaut in Karton mit Kunst, Souvenirs und Akten und ist doch nie Teil dieser Räume. Die Geschichten, denen das vereinzelte oder in Gruppen gefasste Publikum zuhört, sind eben nicht immersiv, bleiben auf Distanz, so sehr sie nahegehen könnten oder es in einem anderen Kontext sogar würden, etwa im Rahmen eines Dokumentarfilms. Hier, in einer Mischung aus Installation und Dokumentartheater gerät die einseitige Narration, die nur in eine Richtung führt, mit dem auf Interaktion oder zumindest Unmittelbarkeit ausgerichteten Medium aneinander und führt dazu, dass die Distanz zum Gehörten und Gesehenen größer ist, als er es in einem Medium wäre, das genau auf diese Form der Kommunikation ausgerichtet ist. Die Abwesenheit des Zuschauers als Akteur zieht eine Wand ein, die der immersiven Absicht dieser Arbeit widerspricht.

Zumal viele der Erzählungen meist an ihren Oberflächen bleiben. Leben werden nacherzählt, menschliche Charaktere en miniatur skizziert, doch die Auseinandersetzung mit dem, worum es hier gehen sollte, ist oft sehr blass. Der Tod bleibt abstrakt, eine ferne Gefahr oder ein selbstverständlicher Endpunkt, nichts, was schreckt, verwirrt, verunsichert. Fast alle erzählenden wirken abgeklärt, im Reinen mit sich, dem Leben, dem Tod, bieten keine Reibungsfläche und keine Identifikationsmöglichkeit. Da sind keine Brüche, in welche der Besucher hineingreifen oder gar hineinfallen könnte, nichts, was ihn hineinzöge in das Zwielicht zwischen Dasein und Verschwinden, nichts, was ihn zwänge, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Stattdessen hört man zu, mal gebannter, mal gelangweilter, mal amüsierter, verlässt den Raum und lässt das dort erzählte Leben hinter sich, ohne dass es Spuren hinterlassen hätte, weil es nie Leben werden konnte. Und so wird der Warteraum schnell vom Reflexionsort, an dem der Mensch mit sich und den eigenen Ängsten alleingelassen ist, und vom metaphorischen Wartesaal Leben, der nur die Zeit bis zum Tod zu füllen versucht, zum zunehmend nervigen Zeitverlustapparat.

Eine Ausnahme gibt es jedoch: den Raum des Neurochirurgen. Er ist eher abstrakt gehalten. Bis zu sechs Besucher*innen setzen auf weißen Schemeln und schauen in einen Guckkasten in der Mitte. Dort erzählt der pensionierte Arzt von sich, lässt sein Altern in Bildern erleben, und von seinem Spezialgebiet, der Demenz, der Selbstauflösung von Geist und Bewusstsein, dem graduellen Verschwinden des Ich. Dabei starrt der Besucher mal ins Dunkel, dann aufs Gegenüber, verschwimmen Gesichter, reale, projizierte ineinander, überlagern sich. Das Ich, das Bewusstsein um die eigene Identität, für den Arzt die Essenz des Lebens, gerät ins Straucheln, kippt ins Ungewisse, verschwimmt in Unsicherheit. Da ist sie, die existenzielle Verunsicherung, die mit dem Nachdenken – oder dessen Verweigerung – über den Tod einhergeht, die verwurzelt ist in der kaum jemals fasslichen Ironie, dass Leben nur möglich ist, weil es wieder ausgelöscht werden wird. Da ist auch – endlich – die Frage danach, was Leben denn ausmache, welche Rolle dabei spielt, wie wir uns unser selbst und der Welt bewusst sind. Und schließlich jene nach dem Nachlass: nicht materiell und pragmatisch, sondern ganz substanziell: Was bleibt von mir, wenn ich nicht mehr ich bin? Aufwühlende acht Minuten in eineinhalb Stunden weitgehender Beliebigkeit.

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