In der Marillen-Hölle

Autorentheatertage 2017 – Yade Yasemin Önder: Kartonage, Burgtheater, Wien / Deutsches Theater, Berlin (Regie: Franz-Xaver Mayr)

Von Sascha Krieger

Es wird ja immer wieder gern über die Wirkmächtigkeit von Theater, von Kunst im Allgemeinen, debattiert, meist mit einem erwartbaren Ergebnis: Der gesellschaftliche Effekt von Theater ist eingeschränkt bis gar nicht vorhanden, seine soziale Funktion längst abhanden gekommen, man predigt ohnehin nur noch zu den Bekehrten und schließt sich ein im wohligen Kokon des Bildungsbürgertums. Das ist alles nicht falsch und auch Kartonage, uraufgeführt im Rahmen der Autorentheatertage 2017, wird die Welt nicht verändern. Vielleicht aber das Verhalten derer, die das Stück sehen durften: Unter ihnen wird der Konsum von Aprikosen-, Verzeihung, Marillenmarmelade voraussichtlich eher abnehmen. Und sollten sich Daten-Kenner unter den Zuschauer*innen befinden, ist es zumindest nicht undenkbar, dass sie noch einmal genauer in die Exegese der Divina Commedia gehen, um zu erforschen, ob sie nicht einen Höllenkreis übersehen haben, der ganz und gar aus dem süßig-klebrigen Brotaufstrich besteht. Denn in Yade Yasemin Önders Theaterdebüt  ist das Grauen, ist der Abgrund, ist das Jüngste Gericht eindeutig zu verorten: in einem dampfenden Topf gefüllt mit dem in seiner Färbung verdächtig an die Hautfarbe eines aktuellen amerikanischen Spitzenpolitikers erinnernden Brei.

Gastgeber der Autorentheatertage: das Deutsche Theater Berlin (Bild: Sascha Krieger)

Wernerzwei kocht ihn unaufhörlich, die weibliche Hälfte des Ehepaars Werner, die sich nur noch durch Ziffern – der Mann ist natürlich nominell die Nummer eins – unterscheiden. Nichts anderes als Marillenmarmelade kommt auf den Tisch, wie überhaupt das Rest-Leben in vollkommener Eintönigkeit und entmenschlichter Mechanik erstarrt ist. Wernereins tippelt herum wie eine Aufziehpuppe, der die Energie, wird von Wernerzwei mit den ewiggleichen Klopfgeräuschen gesteuert, regelmäßige Ohrfeigen müssen als letzter Lebendigkeitsbeweis herhalten. Man lebt in einem Karton, von Bühnenbildnerin Michela Flück in einen kippenden Holzkasten von atemberaubend spießerischer Langeweile umgedeutet. 20 Jahre haben sie ihren Privatbunker nicht verlassen, aus Angst vor einer Außenwelt, die plötzlich hereinbricht, in Form der totgeglaubten Tochter, die in den 16 Jahren ihrer Abwesenheit als Personifizierung aller Schuld dieser Welt herhalten durfte. Sie ist schuld, dass die Werners ihren Bau nie verlassen haben, dass sie der Welt abhanden kamen, dass sie das Außen nur noch als Feind, der ihnen nach dem Leben trachtet, wahrnehmen können. Worin die Schuld besteht, wird nie ausgesprochen, ist auch nicht wichtig – es ist die Behauptung selbiger, die sdiese Scheinwelt am Laufen hält.

Die Außenwelt sind bestenfalls Störgeräusche, fragmentarisch per Videowand über dem Kasten hereinbrechend. Hier erfahren wir auch so etwas wie die Vorgeschichte: den Ausbruchsversuch der jugendlichen Tochter mit der besten Freundin, trocken resigniert erzählt mit herausforderndem Blich und einer statischen, monochromen Strenge, die von Beginn an davon erzählt, dass er nie eine Chance hatte. So fällt die Tochter, längst der Komplizin beraubt, wieder zurück in die Hölle, der sie nie entkommen konnte, weil sie ihre Welt ist. Natürlich schweift der Gedanke zu den Fällen Fritzl und Kampusch und weiter in ein Europa, das sich einmauert, das alles Äußere als Bedrohung wahrnimmt, das lieber in den Untergang geht, als sich anzupassen oder gar zu verändern. Stehen geblieben sind hier nicht nur die Rest-Menschen, entindividualisiert in Bodysuits, nicht mal ihrer eigenen Haut mehr habhaft, sondern auch die Zeit. Vergangeheit, Gegenwart, 16 Jahre: Das bedeutet alles nichts für jene, die sich dem Vergehen und Werden, dem Weiterentwickeln, Wachsen, aber auch dem Scheitern verweigern.

Uraufführungen sind ja immer so eine Sache: Will man den Text ins rechte Licht rücken, bleibt oft der Regiezugriff auf der Strecke, nutzt der Regisseur die Gunst der Stunde, sich zu profilieren, leidet gern einmal der Text. Kartonage gehört in keine der beiden Kategorien, sondern ist eine der glücklichen Fälle, in denen Text und Inszenierung eine faszinieren Symbiose bilden. Önders verknappten, wiederholungsschwangeren, formstrengen Text, der auf Eintönigkeit und Fragemntarisierung setzt, der Leerstellen als Kitt und Symbol für die Leere findet, von der er spricht, passt perfekt in das groteske Horrorszenario, in das Regisseur Franz-Xaver Mayr seine Spießer-Untoten steckt. Petra Morzé brilliert als blondierte dauergrinsende Mörder-Hausfrau, Bernd Birkhahn als verbittert tattriger Gatten-Zombie und auch Irina Sulaver als Tochter zwischen Widerstand und Aufgabe passt sich in ein höchst präzise zwischen Karikatur und Grauen, zwischen Gelächter und Entsetzen agierende Albtraum-Familie.

Der brüchige Text und die opak-stringente Abgeschlossenheit des inszenatorischen Ansatzes bauen eine Spannung auf, die Auflösung von Sinnzusammenhang und Individualitätskonstrukt sowie restriktives Einmauern als Reaktion auf den Verlust Ich-erhaltender Gewissheit in einer mörderischen Albtraumwelt verknüpft, welche die Marillenmarmelade so unerbittlich zusammenhält, dass es kein Entrinnen zu geben scheint. Wenn das klinisch grelle Licht ausgeht, bleibt als letzter Strohhalm nur die Erinnerung an das Lachen, das einem gerade noch eingefroren ist. Vielleicht ist die Lächerlichkeit die einzig wirksame Waffe gegen die Killer-Aprikosen.

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