Jenseits der Provokation

Nach Stanisław Wyspiański: Der Fluch, Teatr Powszechny, Warschau (Regie: Oliver Frljić) (Gastspiel am Maxim Gorki Theater, Berlin)

Von Sascha Krieger

Es passiert ja eher selten, dass Theateraufführungen außerhalb der Feuilleton-Nischen Schlagzeilen machen, Titelseiten belegen, zu hitzigen gesellschaftlichen Debatten herausfordern oder gar die Politik auf den Plan rufen. Wenn es in der europäischen Theaterwelt derzeit einen Regisseur gibt, der dazu in der Lage ist, ist es der Kroate Oliver Frljić. Und wenn Provokation und Herausforderung des gesellschaftlichen Konsens Kernelemente seiner Arbeit sind, dann ist Der Fluch so etwas wie sein Meisterstück. Denn der Sturm, den seine Warschauer Premiere im Februar dieses Jahres hervorrief, war mit Orkanstärke noch zu vorsichtig beschrieben. Die Rergierungspartei sah Polen beleidigt, die katholische Kirche sich selbst, der konservative Teil der Gesellschaft ging auf die Barrikaden. Zensuraufrufe machten die Runde, Priester hetzten von der Kanzel, Schauspieler*innen wurden geächtet, Proteste erschütterten das Theater, eine (weitere) Verschärfung der bereits jetzt äußerst nationalistisch ausgeprägten Kulturpolitik, eine Ausweitung der – ebenfalls bereits gängigen – Beschneidung von Meinungs- und Kunstfreiheit wurden gefordert.

Das Maxim Gorki Theater, Ort des Berliner Gastspiels (Foto: Sascha Krieger)

Was war passiert? Frljić, der selbst schon einmal Opfer einer Stückabsetzung in Polen war, legt sich, wie es seine Art ist, mit der Gesamtheit einer Gesellschaft an, die nicht nur er als längst in eine immer totalitärere, restriktivere Richtung abrutschen sieht. Eine Gesellschaft, die im Würgegriff ist eines sich absolutistisch gebärenden Nationalismus und einer katholischen Kirche, die ihre Lehre nicht nur äußerst konservativ auslegt, sondern sich auch anmaßt, die alleinige Hoheit über moralische Fragen und gesellschaftliche Werte zu haben. Was der Priester sagt, gilt. Das ist heute so, wie es  vor über 100 Jahren der Fall war, im Jahr 1909 als Stanisław Wyspiańskis Stück Der Fluch seine Uraufführung erlebte. Darin geht es um eine junge Frau, die vom Dorfpriester geschwängert wird. Ihr Leben bedroht, vom Vater der Kinder, der gar befürwortet, Mutter und Kinder auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, allein gelassen, opfert sie die Kinder und wird am Ende selbst gesteinigt. Die repressive Moral einer Gesellschaft, in der wenige die Macht haben, Recht und Unrecht zu definieren und beide rein pragmatische Instrumente der Erhaltung von Machtstrukturen sind, die gerade deshalb so mächtig sind, weil sie mit vermeintlich übermenschlichen, „göttlichen“ Bedeutungsszenarien aufgeladen wurden. Das beschrieb das Polen zu Beginn des letzten Jahrhunderts und es ist noch immer – oder wieder – aktuell. Hierhin geht sie, die Rückwärtsbewegung eines Landes, das die eigene Identität immer in Gefahr sah, und sich auf der Suche nach nationalem Selbstwert einmauert.

Für Frljić ist das Stpück bestenfalls Ausgangspunkt, Anlass einer sehr eigenen, sehr radikalen Auseinandersetzung mit dem engstirnigen Nationalismus, der schnell in faschistische Tendenzen der Meinungsbeschränkung und Unterdrückung abdriftet und dem Theatermacher aus der kroatischen Heimat bekannt sein dürfte. Das wird schon beim parodistischen Beginn deutlich, als eine Darstellerin mit Bertolt Brecht telefoniert und ihn fragt, wie man denn das Stück zu inszenieren habe. Die Antwort ist dann selbst für Brecht um einiges zu extrem. Frljić sucht und findet alle Schmerzpunkte des erzkonservativen Mehrheitspolens und streut Salz, Chilli und so manches mehr in die Wunden. Es gibt: Oralsex mit einer Statue des „polnischen Papstes“ Johannes Paul II, der anschließend ein Schild, das ihn der Unterstützung der Pädophilie bezichtigt und eine Schlinge um den Hals gelegt bekommt; ein Nachdenken über Sinnhaftigkeit und Zulässigkeit eines Mordanschlags auf den polnischen Präsidenten; das Zusammensetzen multipler Kruzifixe zu einem Maschinengewehr; eine Chroreografie sexuell übergriffiger Priester; einen kollektiven Orgasmus über das Wort „Polska“; einen wütenden Monolog einer Frau, die Abtreibung als ihr Recht reklamiert und eine noch wütendere Hetzrede auf Muslime – das zu erstickende Alternativ-Polen und die hässliche Fratze, die seine autokratische Führung dem Land zunehmend aufdrückt; ein per Motorsäge erlegtes Holzkreuz und einen durch das Herausdrehen multipler Glühbirnen gerupften polnischen Adler. Und noch manches mehr.

Frljić hält sich nicht zurück, er trifft das konservativ-polnische Selbstverständnis, das bemüht ist, die eigene Sichtweise für absolut zu erklären und Abweichendes zunehmend zu tabuisieren. Er trifft den einseitig verklärenden Blick auf die eigene Nation ebenso wie die Rolle der katholischen Kirche als Unterdrückungsapparat. Das ist natürlich überaus plakativ, sehr auf Effekt gebürstet und will den Schaum vor dem Mund, das Geifern der Mächtigen, den entlarvenden Hass der Möchtegernunterdrücker und ihre blind folgenden Schafe erreichen. Mission erfüllt. Doch wollte man den Abend auf diese ebene reduzieren, griffe das viel zu kurz. Denn Der Fluch ist – und das ist seine große Stärke – um einiges vielschichtiger. Immer wieder verlässt er den Anklagemodus, setzt klare Brüche, hält das Theater an, um sich als Theater zu outen. „Alles, was wir im Theater tun und sagen, ist Fiktion“, wird als nachzusprechendes Mantra wiederholt, eine Darstellerin spricht über die Grenze zwischen Fiktion und Realität, die es auszutesten gelte. Die Schauspieler*innen nennen ihre realen Namen, erzählen eigene Geschichten, meist solche sexueller Missbräuche, aber sie reden auch über das Theater, ihr Risiko, ziehen über den Regisseur her, den sie einen Heuchler schimpfen, der als Festivalleiter selbst zensiert habe, und nach ein paar Wochen Provokation wieder abhaut und sie ihrem Schicksal überlasse. Einer meint, er sei nur besetzt worden, weil er bereit sei, seine Genitalien auszustellen und führt das gleich vor. Auch das Publikum wird Zielscheibe, angeklagt, sich an der Erniedrigung von Frauen auf der Bühne zu ergötzen, ihren eingebildet kritischen Blick mit Voyeurismus und Haltungslosigkeit mehr als aufzuwiegen.

Und so verlässt der Abend bald die Ebene der anklagenden Provokation und wird zur vielschichtigen Auseinandersetzung über das Theater, die Kunst, die Haltung des einzelnen. Was an den Geschichten real ist und was fiktiv, ist nie klar, die Verunsicherung, die Destabilisierung der theatralen Basis rückt in den Mittelpunkt. Welche Kraft hat Theater und was maßt es sich an? Wie ehrlich kann eine Kunst sein, die darauf basiert, anderen etwas vorzumachen? Und was ist unsere Aufgabe als Publikum, als Gesellschaft, wo liegt unsere Verantwortung. Warum erfreuen wir uns an den Blowjobs eines Statuen-Papstes und hat das irgendeine Bedeutung? Frljić provoziert, fordert heraus, entlarvt – und hinterfragt gleichzeitig genau die Mechanismen, die er selbst gerade eingesetzt hat, legt die Ohnmacht des Theater offen, die selbstgerechte Passivität des Publikums, der „gebildeten“, „aufgeklärten“ Gesellschaft, die das, was er anklagt, erst möglich macht. Er macht es einfach, nur die Provokation zu sehen, legt Fallen aus, die es dem Zuschauer nahelegen, die metatheatralen Teile vor allem als ironisch harmlosen Spaß zu sehen, macht es ihm schwer, die Oberflächen zu durchbrechen. Denn was er da zu sehen bekäme, wäre die eigene hässliche Fratze. Die des Regisseurs und die des Zuschauers. Auch das ist manipulativ. Und verstörend. Zu Recht.

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