Im Lesezirkel

Ödön von Horváth: Niemand, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Dušan David Pařízek)

Von Sascha Krieger

Es war eine Sensation: 2015 tauchte ein bislang verschollenes frühes Stück Ödön von Horváths auf. Niemand hieß es und wirkte gleich vertraut. Die Personnage war bekannt: Randexistenzenz jenseits der gesellschaftlichen Mitte, Geschlagene, Verlorene, von der Gesellschaft Ausgespuckte, Opfer der „Verhältnisse“, der Dauerkrise des frühen 20. Jahrhunderts und, ja, auch ihrer selbst. Eine Tragödie sollte es sein, so der Untertitel, eine im Horváthschen Sinne natürlich. Denn eine Chance haben und geben sich auch diese frühen Exemplare seiner (nicht mehr) Glaubenden, Liebenden und Hoffenden nie. Und doch ist manches anders: Der harte, wortkarge Fatalismus, die kalt erschütternde Resignation seiner Meisterwerke fehlt. Stattdessen hat der Text eine rauhe, wildere Qualität, ist formaler, leitmotivischer, expressionistischer. Und wütender: Auch wenn seine Charaktere dort landen, wo es auch ihre Wiedergänger tun werden, begehren sie doch zumindest gelegentlich noch auf, wüten gegen die Ungerechtigkeit der Welt, die diese Ausnutzenden und – natürlich beim Autor von Jugend ohne Gott – gegen den Schöpfer und sein Werk.

Bild: Arno Declair

Bevölkert wird Niemand von einem behinderten Wucherer, einer Prostituierten samt Zuhälter, einer 17-Jährigen, die erst für den Strich vorgesehen ist und dann Ehefrau wird, einem abgebrannten Künstler. Spielort ist ein Treppenhaus, ein Nichtort, Übergangsplatz und Wartebereich, auf einen Godot, der nicht nur nicht kommt, sondern nicht einmal mehr einen Namen hat. Niemand: Das sind die Leben Vortäuschenden, das ist der nicht mehr erinnerte Gott, das ist die Mitte, die dieser Welt längst abhanden gekommen ist. Krüge zerbrechen, Goldringe sind aus Blech, Szenen wiederholen sich. Eine Kreisbewegung, die immer wieder zum Nicht-Ausgangspunkt zurückführt. Figuren sind austauschbar, ersetzen einander. Liebe ist Illusion, wahnwitzige Fantasie, praktische Unmöglichkkeit. Am Ende verpufft selbst der Hass, geht das Wüten ins Leere, bleibt nur noch diese, ist der Boden bereitet für die von vornherein Verlorenen der späten, großen Horváth-Dramen.

Regisseur Dušan David Pařízek nähert sich dem Werk aus der Entfernung. Der zeitlichen wie der durch den allzubekannten Kanon des auf das Stück folgenden . Er stellt uniform dröge im Stil der 1920er-Jahre Gekleidete auf die Parkett-Quadrate der vom Regisseur gestalteten Bühne, die sich in der Rückwand fortsetzt. Irgendwann fällt sie und gibt den Weg frei – auf noch mehr Parkett und eine identische zweite Wand. Die bürgerliche Fassade ist Gefängnis und Illusion zugleich. Pařízek wirft Textseiten per Projektor an die Wand, an denen sich die Darsteller*innen dann versuchen. Wie auf einer Probe sind alle anwesend, wechseln zwischen Seite und Bühne, geben einander das Signal, wer dran ist. Wenn der Zuhälter verhaftet wird, ist die Probensituation ganz eindeutig, hier wird korrigiert, abgebrochen und neu versucht, der Tonfall verändert. Das ist bereits früher der Fall, als Prostituierte Gilda dem Mädchen Ursula beizubringen versucht, wie sie sich am besten präsentieren sollte. Lasziver natürlich, aber auch „ostiger“. Eine schöne, bitterböse Szene, in der das existenzielle Lebenstheater mit dem verschmilzt, in dem wir sitzen. Hier wird Horváth gespielt und zugleich das Horváth-Lesen geübt.

Der Abend ist ein zweistündiges Annäherungsmanöver, eine Abfolge von Lese-, Interpretations-, Spielversuchen. Mal farcenhaft satirisch, mal kammerspielartig, mal in höchstem Tragösdientum tastet sich das Ensemble hinein, nähert sich und bleibt doch distanziert. Nur selten findet die existenzielle Verzweiflung, von der Horváth erzählt statt, im fatalen Zweckoptimismus Gildas, die um ihre Verlorenheit weiß (so stark wie gebrochen: Franziska Machens) oder im wütenden Gottesporotest des Wucherers Fürchtegott, den Marcel Kohler gegen den Strich bürstet: aufrecht, geradlinig, ernsthaft, sich seiner Chancenlosigkeit bewusst, ein Lebens- und Liebessuchender, der näher an der Wahrheit scheint als all die scheuklappenbewährten Autoillusionisten um ihn herum. Ansonsten variiert der Tonfall von Szene zu Szene, ein Ausprobieren, eine theatrale Suchbewegung, die den Weg sucht aus dem Heute in ein nur auf den ersten Blick fremdes Gestern, das dann aber doch weit entfernt bleiben muss. Und in die Gegenrichtung: Wiederholt streut Pařízek Passagen aus späteren Horváth-Stücken ein, welche die Figuren von der Rampe sprechen, zieht Verbindungslinien, etwa von der Auflehnung von Fürchtegotts Bruder (sehr viril, eine Verkörperung seiner Ideologie vom Starken, welches das Schwache besiegt: Frank Seppeler) gegen gefühlte Ungerechtigkeiten hin zur Welt- und Menschheitsverachtung von Jugend ohne Gott, die dort bekanntlich gen Faschismus führt. Das ist natürlich aufgesetzt und findet doch Anknüpfung. Die Wut, die hier noch tobt, wird dereinst schreckliche Früchte tragen.

Natürlich ist das alles konstruiert, bleiben die Figuren Stückwerk – etwa Wiebke Mollenhauers kaum greifbare Ursula oder Lisa Hrdinas amüsant satirische Nebenfigur-Miniaturen. Das ist gewollt, Teil des Konzepts. Dieser Niemand will keine Interpretation sein, er ist Kennenlernen, Annäherung, Versuch einer Bestandsaufnahme. In seiner gewollten Unebenheit, seiner Mosaikhaftigkeit, dem Unfertigen als Kern wirkt der Abend spröde, bruchstückhaft, zuweilen fast abweisend. Und ist doch stimmig in seiner Konsequenz. Wenn sich etwas findet, das uns nahe zu stehen scheint, die existenzielle Verunsicherung kriselnder Gesellschaften etwa, die Gefahr ihres Abdriftens in Gewalt und Vernichtung, die existenzielle Verlorenheit des Einzelnen, kann das berühren, erzeugt es Momente der Intimität, der unsicheren Verwandschaft der dort Vergangenen mit den hier Zuschauenden. In anderen Passagen bleibt die Fremdheit, stellt sich Distanz in den Weg. Der späterer Horvátth ist mal Verbindungsglied und mal Trennwand, er erleichtert den Zugang und erschwert ihn. Dieser Abend will gar keine Lesart dieses bekannt unbekannten Textes liefern, er beschreibt den Vorgang des Lesens selbst, die Annäherung an ein nie ganz zu durchdringendes Gestern als Versuchsanordnung. Darin ist er überaus konsequent und hinterlässt Spannung – auf das, was dieser Text vielleicht noch zu enthüllen vermag.

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