Erinnerung als Geistertanz

Nach Peter Richter: 89/90, Schauspiel Leipzig (Regie: Claudia Bauer) – eingeladen zum Theatertreffen 2017

Von Sascha Krieger

„Hätte man damals schon sagen können, wer dort eines Tages wem einen Baseballschläger über den Kopf hauen würde?“ Oder wer Karriere machen würde und wer an seiner Drogensucht krepieren? Ein verkramtes Hinterzimmer ist in Claudia Bauers Adaption von Peter Richters Wenderoman 89/90 Schauplatz dieser Fragen. Inmitten von alten Fotos und Erinnerungsstücke wühlen sich zwei heutige Mittvierziger hinein in diese Zeit, in der alles zusammenbrach und neu entstand, in der für einen kurzen historischen Moment alles möglich schien – auch und gerade das Unmöglich. Die üblichen DDR-Utensilien, sie liegen verstreut herum, ein paar Karo-Zigaretten, eine Flasche Altenburger Korn. Aber um sie geht es hier nicht, sie spielen keine Rolle. FDJ-Hemden sucht man vergeblich, kein Trabi rattert. Nein, die Bebilderung mit dem Altbekannten, dem klischeehaft Erwarteten, die Bedienung des (n)ostalgischen Wiedererkennungseffekts, sie findet hier nicht statt. Die realistische Darstellung der DDR-Vergangenheit – oder zumindest unserer (verklärten?) kollektive Erinnerung daran – ist oft genug versucht worden, Claudia Bauer interessiert sie nicht. Nein, ihr geht es um den Erinnerungsprozess selbst und um die Annäherung an eine Zeit – erinnert, real, irgendetwas dazwischen? – die denen, die nicht dabei waren, zuweilen so fremd wie ein Science-Fiction film erscheint.

Bild: Rolf Arnold

Und genau hier setzt ihre Ästhetik an. Noch während des erzählerischen Prologs wabert unter dem erhöht in einem Glaskasten aufgebauten Erinnerungszimmer der Nebel über die Bühne, öffnet sich in der realsozialistisch holzvertäfelten Rückwand (Bühne: Andreas Auerbach, der gemeinsam mit Doreen Winkler auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet) eine Tür, aus der in grellem Gegenlicht seltsame Gestalten treten, Wesen in fleischfarbenen Fatsuits und grotesken Babymasken (die kennen Zuschauer aus früheren Bauer-Inszenierungen), die eigenartige Schwimmbewegungen vollführen. Die nächtlichen Einbrüche ins Freibad, von denen Richter schreibt, hier sind sie ein Geistertanz auf einem anderen Stern, einem anderen Universum vielleicht. Ein Chor tritt auf, schlecht gekleidete Angepasste, das Szenario erinnert an eine SED-Parteiversammlung. Zuckersüß flöten sie „Wie wollen immer artig sein“. Ein Text der Ostberliner Punkband Feeling B, mutiert zu einem freundlich-banalen Kanon. Noch ist die Oberfläche perfekt, doch schon bald treten Risse auf. Von den „Kindern der Maschinenrepublik“ singt der Chor schon bald in martialischem Marschrhythmus, während ein NVA-Offizier grotesk verzerrte Kommandos brüllt, gerichtet an 15-Jährige, Teilnehmer, Insassen des für Neuntklässler obligatorischen Wehrerziehungslagers. Doch erster Widerspruch scheint auf, die uniforme Masse des Chors, in die sich die Darsteller*innen einreihen, reißt auf, der Befehlsstimme stellen sich andere, diversere entgegen.

Das setzt sich fort. Immer dissonanter, kakophonischer wird der Chorklang, immer häufiger, radikaler die Einwürfe. Alberne Erklärungsversuche der Staatsbürgerkundelehrerein (die Umkehrung der Begrifflichkeiten von Arbeitnehmer und Arbeitgeber gehörte übrigens zum Standardrepertoire, wie dieser Rezensent, Jahrgangskollege von Richters Protagonist*innen, bestätigen kann) führen zu seltsamen Choreografien, die immer grotesker und immer weniger homogen werden. Die realsozialistische Sprache wird zerdehnt, abstrahiert, gerinnt zu reinem Sprachmaterial, das sich in sinnentleerten Schleifen fest- und totrennt. So wird der Niedergang eines Systems bei aller Karikatur, aller Farcenhaftigkeit zur reinen Form, übernimmt die visuelle, sprachliche, körperliche Ästhetik dieser entfernt an Marthaler erinnernde musikalisch grundierten Kreisbewegung die Erzählung von Richters Text. Wobei der Abend wohltuend auf Schwarz-Weiß-Malerei verzichtet. Die glühende Kommunistin L., gewandet in ein DDR-Fahnenkleid, ist bei aller Karikatur fühlbar in ihrer existenziellen Verlorenheit, die sie mit jenen teilt, die dem Neuen aufgeschlossener gegenüberstehen. Die Auflösung des Bestehenden macht Bauer zur Dekonstruktion ihrer Form. Grundprinzip ist die variierte Wiederholung. Immer gleich wirken die Szenen, die chorischen, die pantomimischen, die narrative, die vernebelten Gespensterreigen. Und doch verändert sich etwas, kommt, unmerklich zunächst, unübersehbar später, Sand ins Getriebe. Claudia Bauer macht den Verfall, die Auflösung, das Verschwinden sichtbar.

Bis zur Pause ein großer Abend. Leider gelingt der Nachwendeteil weniger stark als jener bis zum „Mauerfall“. Das liegt vor allem daran, dass Claudia Bauer nun einen dezidiert farcenhaften Ton anschlägt. Albernheiten wie eine bizarre Helmut-KohlParodie nehmen jetzt viel Raum ein, die Bühne öffnet sich zu riesenhaft verzerrten Werbeversprechen, angehimmelt von den Ossi-Aliens, deren Nachwendeerfahrung sich seltsamerweise vor allem auf die Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Rechtsradikalismus reduziert. So schöne Konfusionsszenenen es gibt, wenn die Freiheitsauskoster durch den nun marketingkonform in gelben Glitzeruniformen ausgestattetem Chor wuseln, so wunderbar Bauer neue Kollektivbildungen, die Gruppierungen des Individuums zu erneuten, nun kapitalistischen Massen, choreografiert, so wirkt dieser Teil doch leichtgewichtiger, weniger substanziell, skizzenhafter, einfacher gedacht. Vielleicht muss das so sein, womöglich erscheint die anarchische Zwischenphase, in der alles möglich schien, in der keiner wusste, wohin, heute noch ferner, noch fremder noch unverständlicher als die Ordnung, die davor kam. Vielleicht lässt sie sich nur in Vereinfachungen fassen, kommt man nur so den Eingangsfragen näher, die der Abend nicht beantwortet, nicht beantworten kann. Und so werden wohl auch weiterhin Erinnerungslandschaften reale wie geistige Hinterzimmer bevölkern, wird das „Damals“ die, die es erlebten, nicht loslassen, und werden sie einander und sich selbst auch in Zukunft fragen, warum passierte, was geschah und was hätte sein können, werden die Nebel wabern und die Gespenster nicht ruhen. Theater als Fragezeichen und Möglichkeitsraum, als Erinerungslabor und Sprachfinder. In Claudia Bauers Inszenierung kommt all dies zum Leben. Und das ist vielleicht das Faszinierendste an diesen aufregenden drei Stunden.

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