Das Wüten der Stille

Lesbos – Blackbox Europa. Ein Projekt von Gernot Grünewald und Ensemble, Deutsches Theater (Box), Berlin (Regie: Gernot Grünewald)

Von Sascha Krieger

Lesbos, ja, da war doch etwas? Bevor ein amerikanischer Immobilienunternehmer und Reality-TV-Star, ein fehlgeleitetes Referendum in Großbritannien und offen den antifaschistischen Grundkonsens in Frage stellende Polit-Prominenz die Schlagzeilen für sich reklamierten, hörte man öfter von der griechischen Insel, die so nah an der türkischen Küste liegt, dass sie zu einem der beliebtesten Ziele für aus Syrien, Irak oder Afghanistan flüchtende Menschen wurde. Wenn es eine „Flüchtlingskrise“ auf europäischem Boden jemals gab, dann hier auf diesem Fleckchen Erde inmitten des Mittelmeers. Aber das gehört ja Gott sei Dank längst der Vergangenheit an, der „Flüchtlingsstrom“ – wie leicht zu vielen ein solch zynisches Wort über die Lippen geht –dank des Abkommens mit der Türkei eingedämmt. Richtig? Nein. Noch immer leben hunderttausende Geflüchtete auf der Insel, eingepfercht in menschenunwürdigen Bedingungen, gestrandet, weil Europa das Problem als gelöst betrachtet und Lesbos längst allein gelassen hat.

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Bild: Arno Declair

Hier setzt Gernot Grünewalds Projekt an. Mit zwei Schauspieler*innen ist er nach Lesbos gefahren, hat mit Helfer*innen gesprochen, mit Verantwortlichen, hat die Lager besucht – das fast idyllische Karatepe und das zu Recht berüchtigte einem Internierungslager gleichende Moria. Hinzu kommt mit Thalfakar Ali ein irakischer Schauspieler, der Lesbos selbst erfahren hat, als er 2015 auf seiner Flucht dort landete. Sie haben gefilmt, fotografiert, O-Töne aufgenommen und gehen mit diesen nun in die Box des Deutschen Theaters, die Grünewald und sein Bühnenbildner Michael Köpke zu einer Blackbox umgewandelt haben. So wie ihr Namensvetter aufzeichnet, was in einem Flugzeug passiert, damit nach einem Unglück zu ermitteln ist, wie es dazu kommen konnte, ist diese ein Ort der Aufzeichnung des Vergessenen, Verdrängten, als unproblematisch Abgetanen, in dem sich herausfinden lässt, was geschehen ist und geschieht, wie Europas Menschlichkeit so abstürzen konnte.

Zunächst stehen die Zuschauer im Raum, betrachten Bilder von Lesbos, friedliche, unspektakuläre des Alltags, sehen Gesichter Geflüchteter, hören Stimmen freiwilliger Helfer*innen. Papphocker werden verteilt, das Publikum besetzt die Spielflächer, ist mittendrin in der Blackbox, umgeben vom nicht zu Verdrängenden. Die Darsteller*innen stellen ihre eigene Reise nach, ihre Besuche und Begegnungen, die erzählen und spielen, rufen ihre Reaktionen und Emotionen ab und schlüpfen in die Rollen ihrer Gesprächspartner: Eingegeben via Kopfhörer sprechen sie O-Töne von Freiwilligen, Geflüchteten und Verantwortlichen nach. Ohnmächtige Erklärungen guten, doch zunehmend verzweifelnden Willens oder kalter Bürokratie, Erzählungen geplatzter Träume, resignierte Abrechnungen und wütende Anklagen. Sie holen Gegenstände hervor, wie billige, lebensgefährliche Schwimmwesten, zeigen Fotos erzählen von brutalen Schleppern, feindseligen Polizisten, von Attacken auf Geflüchtete, verschwundene und wohl verschleppte Frauen und Kinder, ein Europa, das, wie es eine Helferin ausdrückt, gerade dabei sei, einen Genozid zu verüben.

Am eindringlichsten ist vielleicht der Bericht vom Besuch auf einem versteckten Flüchtlingsfriedhof. Da wendet sich der Blick der Darsteller*innen plötzlich auf sich selbst, auf die eigene Komplizenschaft mit dem weißen Mehrheitseuropa, den leeren Trauerritualen, der Betroffenheitskultur, bei der es in erster Linie um den diese zelebrierenden selbst geht, nicht um die namen- und gesichtslosen Opfer. Wie sehr, sind wir, die beobachten, aber stumm dabeisitzen, die erschüttert sind, aber nichts tun, die nicht auf die Straße gehen und ihre Macht als Souverän einfordern, Mittäter, mitschuldig? Eine Frage, die im Raum steht und doch leider meist an den Rand gedrängt wird. Denn über weite Strecken ist das, was hier passiert, eben doch Betroffenheitstheater, Zeigefinger-reiche Anklage der bösen Machtpolitiker „da oben“, die Europa um jeden Preis abschotten und sich ihrer Menschlichkeit erledigen. Dass diese von uns gewählt sind, dass wir diejenigen sind, die das zulassen, erscheint als Erkenntnis zu brutal, um sie zulassen zu können. Und so plätschert der Abend über weite Strecken erschreckend harmlos dahin, nimmt das Publikum die Schreckensgeschichten teilnahmslos hin, verhallen die Hilferufe der um Unterstützung flehenden.

Das ist alles ganz furchtbar, aber nicht zu ändern, weil „der Staat“, „die Macht“ das so wollen. Klar sitzen wir mittendrin und doch sind das „Sie“ und das „Wir“ klar definiert. Wir stehen/sitzen auf der guten Seite. Das schlechte Gefühl geht auch bei den Spieler*innen schnell wieder weg, denn die Schuldigen sind ganz andere. Da bekommt denn auch der „echte Geflüchtete“ seine Rolle. Er darf hin und wieder Fragmente seiner Geschichte erzählen, freundlich, lächelnd, unterhaltsam. Die großen Themen gehören den „Deutschen“, Regisseur wie Spieler*innen, dieAußensicht dominiert, Augenhöhe ist nicht gewollt. Natürlich kann die Fluchterfahrung nicht nachempfunden werden, aber eine so weitgehende Reduktion der stimmen derer, um die es gehen sollte, hinterlässt denn doch einen fahlen Beigeschmack. Viel wichtiger ist die Grundbotschaft vom kalten, unterdrückenden, egoistischen Europa. Da dürfen Geschichten wie die vom bayerischen Polizisten, der den Geflüchteten willkommen heißt, nicht mehr sein als eine schnell vergessene Anekdote. So multiperspektivisch die Anlage des Abends erscheint, so monoperspektivisch gerät er dann doch, weil er dazu dienen soll, seine Grundaussage zu belegen. Am ehrlichsten ist denn auch der Schluss. Da öffnet sich die Blackbox, wechseln die Zuschauer*innen auf die Tribüne und werden zu den distanzierten Beobachtern, die sie zuvor schon waren. Wir blicken auf die verlassene Spielfläche, schauen den friedlichen Wellen zu und beginnen den Abgrund zu spüren, der sich in dieser stillen, harmonischen Leere auftut. Und plötzlich geht uns das etwas an, nicht als wütend hilflose Beobachter, sondern als Mitverantwortliche, Mittäter. Am lautesten schreit der Abend, wenn er nichts sagt.

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