Nuran David Calis: Kuffar. Die Gottesleugner, Deutsches Theater (Kammerspiele), Berlin (Regie: Nuran David Calis)
Von Sascha Krieger
Zu Beginn strahlt sie rot und herausfordernd: Die türkische Flagge, projiziert auf die weiße Rückwand, die später zu einer Trennwand werden wird zwischen dem Gestern und dem Heute, zwischen Säkularismus und religiösem Fundamentalismus, zwischen Eltern und Kindern, dem Vergangenen und dem vielleicht Zukünftigen (Bühne: Anne Ehrlich). Zunächst ist da aber nur Vergangenheit. Ein junges Paar steht auf der Bühne und erinnert sich. Er an den revolutionären der Geist der Zeit um den türkischen Militärputsch von 1980, sie an einen Sommerausflug als Kind mit dem Vater. Wie sie sich gemeinsamen den Wellen stellten, die immer das Gleiche taten, die dumm seien, wie der Vater sagte. Wenn man sich einstellte, das Richtige tat, konnte man ihrer Bedrohlichkeit trotzen. Gott, so der Vater, lasse sich austricksen. Gott, schreit die Tochter nun, sein tot. Szenenwechsel. Die Wand bleibt jetzt weiß, nichtssagend, utopiefrei. Der Sohn, den die beiden hatten, führt Videotagebuch. Er spricht über – Gott. Wie er zu ihm fand, warum er eben nicht tot sei und man ihn nicht austricksen sollte. Wie er alles diesem Gott unterordnet. Wieso er jeden dazu auffordert, es ihm gleichzutun. Und warum es in Ordnung, nein, notwendig ist, jene, die dies nicht tun, zu bekämpfen und zu vernichten.

Christoph Franken spielt diesen Spätberufenen, Sohn linker Eltern, Arzt, jetzt arbeitslos, weil er medizinisches Gerät nach Syrien schmuggeln wollte. Er spielt seine Wandlung – vom westlich gekleideten moderaten Muslim zum Salafisten in unschuldigem Weiß, vom freundlichen Religionserklärer bis zum hasserfüllten Fanatiker. Und er tut das mit einer Überzeugungskraft, die zumindest andeutet, welche Faszination diese uns so fremd erscheinenden selbsternannten Prediger auf jene ausüben können, die wie dieser Hakan, der sich bald Abu Ibrahim nennt, ihre Identität suchen, sich in der Welt, in die sie sich geworfen finden, nicht heimisch und sich von ihr nicht akzeptiert fühlen. Heimat, so wird der Vater sagen, sei da, wo seine Frau sein. Sie, die Revolutionärin von einst, sieht das anders, sie sehnt sich nach dem verlorenen Zuhause, zu dem es kein Zurück gibt. Auch ihr Sohn sehnt sich und findet seine Heimat im Koran, in der Unbedingtheit fundamentalistischen Glaubens, in der Sicherheit von Schwarz und Weiß (einen Kontrast, den die Inszenierung auch visuell nutzt). Er, der die Zukunft nicht mehr sehen kann, ersetzt sie durch Gott. Der Preis ist eine Absolutheit, die alles andere ausschließt und letztlich an die Substanz geht. Dieser Abu Ibrahim kommuniziert bald nur noch im Brüllmodus, seine persönliche Sinnsuche wird zum Krampf, in dem mantrahaft wiederholte Glaubensbekenntnisse die Kontrolle übernehmen. Aus der Gewissheit wird eine Selbstzermarterung. Rein zu sein ist harte Arbeit. Der Mensch ist dafür nicht gemacht.
Auch seine Eltern waren nicht geschaffen für die ihnen auferlegten Prüfungen. Das Zweifeln des Vaters, die Unbedingtheit der Mutter: Ismail Deniz und Vidina Popov spielen die jungen Revolutionäre als Tanzende am Rande eines Vulkans. Ihr Druck kommt von außen. Kaum auszuhalten, wie sie, die Polizeigewahrsam bereits hinter sich hat, ihn trainiert, dem Druck standzuhalten. Eiseskalt wird es im Saal, wenn er sachlich und als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt davon erzählt, wie Nachbarn Nachbarn foltern, weil der Staat es so will. Popov und Deniz saugen den Ausnahmezustand in sich auf, werden zu ihm. Die Ideale, was waren sie noch mal? Überleben muss man, aber auch standhaft bleiben. Den Mund halten, um zu überleben, sagt sie einmal. Ihn öffnen, solle man, antwortet er, um zu atmen. Sein Ideal lebt sie, er das Ihre. Sie wirft ihm Feigheit vor, er antwortet mit Vernunft. Wer hat Recht? Zu entwirren ist das nicht. Dann vielleicht doch das Schwarz und Weiß des Sohnes, die Gewissheit zu wissen, was der rechte Weg sei und wohin er führe? So unruhig, so verwirrt, so undurchschaubar wie ihre Situation, so voller Unruhe sind ihre Szenen. Laut hämmert die Musik, Bilder flirren über die Wand, auch das Licht ist sich seiner nicht sicher.
Ganz anders die Gegenwart. Weiß und still ist sie und doch nicht ungeteilt. Für den Sohn bedeutet sie Sicherheit, für die Eltern Leere. Die Träume sind zerplatzt, was bleibt, ist einander die Schuld zu geben und Wege zu suchen, im Sohn den verlorenen Sinn zu retten. Als sich dieser entzieht, bleibt das große Nichts. Es ist dieser Teil, der dem Abend eine Unwucht verleiht. Zu klischeehaft die Ehekräche der Ex-Revolutionäre, zu plakativ ihre Gegenüberstellung: Hier der selbstgerechte Trotz des Vaters, dort das in Aggressivität umschlagende Selbstmitleid der Mutter. Harald Baumgartner nölt sich durch seinen Ismet, Almut Zilcher zickt und keift als Ayse. Dass Calis meint, dem Konflikt auch noch eine ökonomische Komponente geben zu müssen (die Moschee des Sohnes ist säumiger Mieter in einer Immobilie des Vaters), verstärkt die Plakativität noch. Wo die jüngeren Eltern und der Sohn als dreidimensionale Menschen erscheinen, bleiben die Jetztzeit-Älteren übe weite Strecken Abziehbilder. Das entzieht dem Konflikt den Boden, weil dem Eiferer der Gegenpol fehlt. Ein Makel, der den Abend ein wenig zu unrund macht. Aber nicht weniger wichtig.
Nuran David Calis’ Kuffar. Die Gottesleugner fragt nach dem Sinn, den wir unserem Leben geben, nach dem Preis, den wir zahlen – und nach der Religion. Hakan, der Sohn, sucht in ihr Halt, die Eltern verwerfen sie als Instrument der Unterdrückung. Haltlos bleiben beide Seiten. Und verloren. Der Abend erzählt von der Logik der Radikalisierung, deutet an, wie auch vermeintlich gut „Integrierte“ zu Gotteskriegern werden können, er spricht vom Konflikt der Generationen, die zueinander nicht finden, weil ihnen die Welt der anderen, weil ihnen deren Kämpfe so fremd erscheinen. Er bringt die Welt der Eltern so nah wie die des Sohnes. Ausnahmezustände beide, Entscheidungen, die in Sackgassen führen auch. Umso tragischer die Trennung, die Anne Ehrlichs Bühne symbolisiert, die Unmöglichkeit des Zusammenkommens. Schwarz (Eltern) und Weiß (Sohn leben Lichtjahre entfernt und doch auf engstem Raum. Wie lässt sich das lösen, wer sitzt am Hebel? Die Stärke von Calis’ Stück und seiner Uraufführungsinszenierung ist, dass er nicht wertet, dass er Antworten verweigert, dass er erklärt, aber nicht behauptet, eine Lösung zu haben. Und sie vielleicht doch andeutet: Er propagiert Verständnis, zeigt, woher radikale Lebensentscheidungen kommen, wodurch Menschen werden, wie sie sind. Und vielleicht kann dieses Wissen dazu führen, einander nicht mehr feindlich, verständnislos gegenüberzustehen, kann der Blick in die Black Box des Anderen ein Schlüssel sein, sich näher zu kommen.
Womöglich will die Schlussszene genau das sagen: Da sitzen die fünf Darsteller*innen nebeneinander, lesen vor aus den Erinnerungen der Älteren. Stockend, nicht immer verstehend, aber sich doch einlassend – auf den Anderen, auf das frühere und das zukünftige Ich. Dann drehen sie sich um und starren auf die Fernsehbilder vom Militärputsch in der Türkei. Dem von 2016. Das ist die Trennwand bereits verschwunden, Heute und Gestern eins. Im Guten wie im Bösen.