Ausgekipptes Leben

Kornél Mundruczó / Proton Theatre: Látszatélet / Imitation of Life, Proton Theatre, Budapest / Wiener Festwochen / Hebbel am Ufer, Berlin / Theater Oberhausen (Regie: Kornél Mundruczó)

Von Sascha Krieger

Immer näher kommt das Gesicht der Kamera – oder ist es umgekehrt? Es ist kein junges Gesicht, eines, das viel erlebt hat, erlitten auch und erduldet. Zunächst ist es widerspenstig, widerständig, angriffslustig. Minutenlang streitet sich die Frau, der das Gesicht gehört, mit einigem Witz mit dem unsichtbaren, zunehmen ungeduldigen und aggressiven Mann, dem die Kamera zuzuordnen ist. Er lenkt den Blick, er hat die Kontrolle, er ist die Macht. Es geht zunächst darum, ob sie ihm persönliche Daten geben muss, ohne die er, wie er behauptet, ihr nicht sagen kann, worum es geht. Wie ein Ping-Pong-Match geht es hin und her, sie wirkt schlagfertiger, gewitzter und hat natürlich keine Chance. Denn, so erfahren wir wie nebenbei, sie ist eine angehörige der Roma-Minderheit in Ungarn, er Vertreter eines Inkasso-Unternehmens, beauftragt, sie aus ihrer Wohnung zu bekommen, „umzusiedeln“, wie sie es treffender nennt.

Bild: Sascha Krieger
Bild: Sascha Krieger

Irgendwann wird aus ihrer Auseinandersetzung, aus dem letzten Aufbäumen gegen die Macht ein Geschichtenerzählen, ein finaler Akt der Affirmation und Identitätsbehauptung. Sie erzählt von einer Historie der Ausgrenzung, sachlich, mit all der Selbstverständlichkeit, die diese Diskriminierung sich nicht nur in Ungarn bis heute herausnimmt. Sie spricht von den Kämpfen, ihren, denen ihres Mannes, sich so etwas wie ein normales Leben aufzubauen – und von ihrem Sohn, der sich seiner Identität immer erwehrte, sich die Haare blond färbte und versuchte, sich die Haut zu bleichen, und der irgendwann verschwand und alle Brücken abbrach. Der Preis der Ausgrenzung: Er wird in dieser langen, zuweilen kaum erträglichen Eingangssequenz auf großer Leinwand sicht- und spürbar. Ebenso wie die Deformationen, zu denen es führt, wenn das Leben daraus besteht, sich für das zu verteidigen, was man ist – und die darin enden können, dass man versucht jemand anderes zu sein.

Regisseur Kornél Mundruczó, der in seinen Arbeiten das moderne Ungarn als Psychothriller, als subtile Horrorstory erzählt, nimmt sich hier zurück. Er lässt die Augen seiner Protagonistin erzählen, ihre Stimme, geht nah heran, zu nah fast, bis aus dem klaren Blick wieder nur ein Fragment geworden ist. Wenn sich der Blick weitet, die Leinwand fällt, bleibt die enge. Eine verlebte Wohnung mit hohen Fenstern, bröckelndem Putz und den Überresten von Jahrzehnten Lebens hat Márton Ágh gebaut, zwei kleine, nicht getrennte Räume, Hort kleiner Träume, die hier wenig mehr tun können als ersticken. Wenn die Leinwand hochfährt, ist die Energie der alten Frau versiegt. Sie strauchelt, sinkt zusammen, der Mann ruft einen Notarzt und muss hören, dass „solche Fälle“ keine Priorität haben. Alltagsrassismus in seiner klarsten Form. regen fällt, aus dem Nebel der Erinnerung schälen sich Bilder, der letzte Kontaktversuch der Mutter mit dem sie verleugnenden Sohl. Dann kippt die kleine Welt. Der nun leere Bühnenraum beginnt sich zu drehen, die Möbel geraten ins Rutschen, Küchenschränke geben ihren Inhalt preis, altes Spielzeug verteilt sich im Raum, Elektrogeräte hängen nur noch an ihren Kabeln. Das Leben wird zum Trümmerfeld, zur Müllhalde, auf der sich alsbald eine alleinerziehende Mutter einrichten Muss, zur Unterschrift genötigt vom gleichen Vertreter der Macht, der zuvor der Mutter zusetzte.

Ganz am Ende kehrt die Leinwand wieder. Da ist es die Handykamera eines kleinen Jungen, Sohn der neuen Bewohnerin, die ein Gesicht einfängt. Ein jüngeres und doch gezeichnetes. es ist das des verlorenen Sohnes, der zurück ist in der Wohnung der nun toten Mutter, wobei diese Rückkehr, auf Videowänden links und rechts des nun offen sichtbaren Bühnenraums projiziert, irgendwo zwischen (Alb-)Traum, Geistergeschichte und Zeitreise anzusiedeln ist. Vielleicht gehört dieses Gesicht einem Gespenst, einer Körper gewordenen Anklage, die nun stumm in die Kamera schaut. Längst ist die große Videowand wieder heruntergefahren, das Gesicht nurmehr Projektion. Auf ihm erscheinen Worte, eine Geschichte, die so im vergangenen Jahr in Budapest passiert ist. Da wurde ein junger Rom mit einem Schwert angegriffen und schwer verletzt. Der Täter, der, so mutmaßte man, aus rassistischen Motiven handelte, entpuppte sich ebenso als Rom.

Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will. Und hinhören: Das leblose Lärmen des sich über die Bühne ergießenden gelebten Lebens, des Übriggebliebenen von denen, die längst vergessen sind, vergessen werden sollen – es ist kaum zu ertragen. Die tödliche Kälte einer Macht, die Menschen gegeneinander ausspielt, die Diskriminierung als Instrument ihrer eigenen Sicherung und Vermehrung nutzt, sie ist zu fühlen. Wenn der Regen fällt, wird es kalt im Raum, greift so mancher Zuschauer zur Jacke. Sie wärmt nicht angesichts dieser Miniatur des Leidens, dieser kalten Selbstverständlichkeit der Ausgrenzung, des ineinandergestürzten, zusammengefallenen Lebens. Der Witz des Beginns ist eisiger Starre gewichen, der finale Blick des jungen Mannes leer, geschlagen, besiegt, aussortiert. Die Wut, die dieser Anblick erzeugt, verweigert der Abend. Er zwingt sie dem Zuschauer auf und lässt ihn damit allein. Das ist nicht angenehm und darf es auch nicht sein. Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer. Großen Theater kann das.

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