„Truth is beauty.“ Oder nicht?

Foreign Affairs 2016 – William Kentridge: Refuse The Hour

Von Sascha Krieger

„Thinking Aloud in Eight Movements“: Der Untertitel von William Kentridges trans- und multimedialer Performance ist Programm. Der etwa eineinhalbstündige Abend ist zum einen die Fortsetzung seiner „Drawing Lessons“, in denen er performativ wie theoretisch über Kunst sprach, zum anderen entspringt er seiner Documenta-Installation „The Refusal of Time“. Um die Zeit geht es und ihr Gegenstück, ihren Mitstreiter, ihr Alter Ego, den Raum. Zeit als Grundsubstanz des Kosmos, des Universums, des Lebens – und Zeit als Machtmittel des Menschen, als Instrument und Objekt seines Drangs nach Ordnung, nach Kontrolle, nach Unterwerfung. Kentridges Gegenprinzip ist die Unsicherheit, die „uncertainty“, der Zufall, das Zerfallen und Neuzusammensetzen. Darauf basiert Refuse The Hour, eine Mischung aus Geschichtenerzählen, Musik, Klanginstallationen, kinestischen Skulpturen, Tanz, Zeichnung und Videokunst. Vom Perseus, der die Hydra tötete, und ähnlich Odysseus, beim Versuch, der Prophezeihung des Orakels zu entgehen, diese erfüllte, erzählt Kentridge, von der Theorie des Raums als Archiv der Zeit – 500 Lichtjahre entfernt von uns schreibt Luther seine Thesen, aus 2000 Lichtjahren könnte man Jesus‘ Kreuzigung beobachten – aber auch von der Regulierung und Vereinheitlich der Zeit als Unterdrückungsmittel des Kolonialismus. „Give us back our sun“, singt Ann Masina. Die Ketten einer geordneten, diktatorischen Zeit gilt es zu sprengen – Refuse The Hour ist dieser Idee Experimentierfeld.

Bild: Jac de Villiers
Bild: Jac de Villiers

Ein Denkprozess ist dies, wie der Titel andeutet. Vielschichtig, von vielen Richtungen her ansetzend, vielstimmig auch, ein polyphones Tönen unterschiedlichster Ausdrucksformen – vom Individuellen ist Tanz und Gesang, zum Wiedergegebenen in Kentridges Lesungen bis hin zum Mechanischen, in seinen Skulpturen und dem von der Decke hängenden Schlagzeugapparat. Die zeit läuft vorwärts und zurück, der Raum ist drei- wie zweidimensional, Spigelungen, Dopplungen, Schatten bevölkern Bühne und Leinwand, das Reale findet sich im Repräsentierenden wieder und umgekehrt. Dekonstruktion und Zusammensetzung ist eines, die Zeit kein lineares Fortschreiten, sondern ein Kreislauf, vielleicht auch ein ansetzen und abbrechen, stets jedoch nie nur eines. Kentridge fragmentiert und kombiniert immer wieder neu, er löst auf und baut zusammen, er lässt den Zufall regieren, etwa ist den Figuren und Worten, die verbrannte Schnipsel auf der Leinwand bilden und verschwinden lassen. Die Unsicherheit, das Dazwischen findet sich überall: in der Musik Philip Millers, die mal minimalistisch verwirrt, mal afrikanische Rhythmen zitierend, mitreißt; in den Worten Kentridges, die Geschichten erzählen, Wissenschaft wiedergeben oder pures Sprachmaterial sind; in den Bewegungen, Tänzen, im Bewegtwerden von Dada Masilo; in den sich überlagernden visuellen Ebenen von Kentridges Zeichnungen, Schattenspielen und Installationen.

Nichts ist nur eines, alles ist auch sein Gegenteil. Das klingt ungeheuer verkopft und sperrig – und wirkt doch so leicht, so natürlich, so unterhaltsam gar. Denn eines macht William Kentridges Kunst eben auch aus: das ständige Infragestellen auch seiner selbst, die Ironie auch dem eigenen Schaffen gegenüber, der spöttische, aber immer auch warme Blick auf Welt, Kunst und Ich. Refuse The Hour ist ein spielerisches Experiment, von Neugier durchpulst wie vom Spieldrang, ein chaotisches, zuweilen fast dadaistisches Durcheinander disparat erscheinender Kunstformen, die einander befeuern, aufheben, überlagern, die sich verstärken, visuell, akustisch, rhythmisch oder Konfusion stiften, die aufbauen und erschaffen oder stören und einreißen. Die Ordnung der Zeit, die Übersichtlichkeit des Raums werden sabotiert mit dem Trotz eines Kindes, dem die Logik der Vernünftigen zu langweilig ist. Doch dieses „Kind“ entdeckt, dass diese Vernunft eben nur eine Möglichkeit von vielen ist, dass im „unsaying“, im „unremembering“, im Umkehren der Zeit, im Widerstand gegen ihre Ordnung Freiheit liegt – der Kunst, des Menschen, des Lebens. Freiheit ist Unsicherheit. Und Schönheit. „Truth is beauty, beauty truth“, lautet ein mantrahaft wiederholtes Credo. So ist es. Und natürlich ist es nicht so.

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