30 Jahre Neugier

PortFolio Inc.: Gestern, Heute, Morgen (#ETP30). Ein Rückblick, ein Einblick, ein Ausblick, Theater unterm Dach, Berlin (Leitun: Marc Lippuner)

Von Sascha Krieger

Am 1. April 1986 wurde das Kulturareal im Ernst-Thälmann-Park eröffnet, 15 Tage später der Park als Ganzes, ein Prestigeprojekt der DDR-Führung (zur Einweihung kam neben SED-Generalsekretär Erich Honecker auch der sowjetische Staatsschef Michael Gorbatschow), ein innerstädtisches Vorzeigewohnmodell mit mehr als 1300 modernen Wohnungen, Parkanlagen mit Naturambiente, Gaststätten, Einkaufseinrichtungen, einer Schule, einem Schwimmbad – und eben einem eigenen Ort für die Kultur. Im Zentrum stand ein Kulturhaus, der auch ein Theater beherbergte, das Theater unterm Dach, das es auch 30 Jahre später noch gibt. Grund genug, für ein Wochenende einzutauchen in die Geschichte des Ortes, der modernes, grünes innerstädtisches Wohnen symbolisieren sollte und auch 30 Jahre später noch fasziniert. Doch auch einer, der dunkle Seiten hat: So musste für ihn ein Stück Industriegeschichte weichen, das alte Gaswerk mit seinen imposanten Gasometern. Sozialistische Stadtplanung als geschichtsvergessene Tabula-Rasa-Politik. Zumal es hier natürlich auch nie nur darum ging, lebenswertes Wohnen mitten in der Stadt zu schaffen. Der Park war ein Mittel im Propagandakrieg rund um die 750-Jahr-Feier Berlins. Und er hatte Nebenwirkungen: Nicht nur verschleierte er die desaströse Vernachlässigung großer Teile der DDR-Wohnsubstanz, er verschlimmerte sie sogar noch, weil er einen Großteil der Wohnungsbauressourcen über Jahre hinweg band, die dann woanders fehlten.

Das Theater unterm Dach (Bild: Sascha Krieger)
Das Theater unterm Dach (Bild: Sascha Krieger)

Dass Kultur in der DDR nie Selbstzweck war, erfahren die Zuschauer und Mitläufer des Stationentheaters Gestern, Heute, Morgen, das die Dokumentartheatergruppe PortFolio Inc. im Theater unterm Dach am Jubiläumswochenende inszenierte. Die dritte Station nämlich führt in den Bürotrakt im obersten Stockwerk, wo ein SED-Funktionär mit leicht sächselndem Akzent den Rechenschaftsbericht vorträgt. Dabei wird klar: Bei aller Rhetorik der Marke „Alles zum Wohl des Menschen“ ging es hier vor allem um ideologische Indoktrination und die Benutzung des Projekts zu Propagandazwecken. Der Abend verschweigt das nicht, doch schaut er beim allem Rückblick vor allem nach vorn. Denn längst ist aus dem sozialistischen Wohnpark ein vielleicht nicht ganz normales Viertel geworden, aber doch eines, das mit all dem zu kämpfen hat, was 26 Jahre nach der deutschen Einheit das Land umtreibt. Das gilt natürlich auch für die Kultur: Schauspielerei ist längst ein prekärer Beruf geworden, wie uns die Wein- und Textserviererin im ehemaligen, jetzt leeren Kellerrestaurant erzählt und vorführt. Doch nicht nur finanzielle Schwierigkeiten birgt es, sondern auch existenzielle Abgründe im Falle des Scheiterns, exemplarisch demonstriert von einer Schauspielerin, die am Rande des Nervenzusammenbruchs ihr Geld als Coach in allen Lebenssituationen verdient. Das Selbstwertgefühl bleibt dabei auf der Strecke.

Und doch wird weitergespielt, trotz allem. Die erste Station führt denn auch in den „Rosengarten“, ehemals Restaurant, heute Probebühne des Theaters unterm Dach, wo gerade für ein neues Stück geprobt wird. Chorische Sinngebungsversuche im Angesicht des Abgrunds. Und so sind wir im Rahme der Zeitreise schnell beim Medium dieser Vermittlung angekommen: dem Theater selbst. Der letzte Teil des Abends findet genau hier statt, im Theater unterm Dach, wo sich neun Darsteller*innen – drei Schauspieler*innen und sechs Mitwirkende der Jugendtheateretage – Gedanken machen über die Zukunft: die eigene, die des Theaters im Allgemeinen, die dieses Theaters.  Thesen zu dessen Zukunft werden verlesen – mehr Inklusivität, mehr Interaktivität, mehr Relevanz – persönliche Meinungen und Wünsche hinzugefügt.

Und urplötzlich wird aus der losen Abfolge mal amüsanter, mal erhellender, zuweilen auch etwas redundanter Episoden ein Konglomerat aus Gesellschaftlichem, Politischen und Persönlichem, das ganz theoriefrei andeutet, warum Theater auch in Zukunft noch relevant sein wird und muss, egal, ob es sich den wohlfeilen Thesen fügt oder nicht. Weil es etwas in Menschen auslöst, direkt, unmittelbar, persönlich. In denen auf der Bühne und denen davor, weil es Raum und Zeit überbrückt und erlebbar macht. Und so kommen sie hier zusammen, das Gestern, das Heute, das Morgen. Rote Banner bedecken die Bühne, sie sind im ganzen Haus verteilt. Darauf die Namen der Produktionen der letzten Jahre und Jahrzehnte. 30 Jahre Theatergeschichte, die ins Heute wirkt. Und natürlich erinnern die Banner an die Propagandatransparente der DDR-Zeit und schlagen den Bogen zurück, in das, was dieser Ort einmal sein sollte, und dem er eine vollkommen andere Wirklichkeit abgetrotzt hat. Die bedroht ist und die ums Überleben kämpft. Weil ihr einziges Kapital die Neugier und der (Zweck-)Optimismus sind, weil sie Hoffnung birgt, Hoffnung, die diesen Abend trägt. Und hoffentlich viele, viele weitere.

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