Foreign Affairs 2015 – Angélica Liddell / Atra Bilis Teatro: You Are My Destiny (lo stupro di Lucrezia) (Regie: Angélica Liddell)
Von Sascha Krieger
Leise, zaghaft hebt es an. Ein Trommeln, zunächst auf einigen wenigen Instrumenten, bald auf zehn großen Trommeln, anschwellend, lauter werdend, sich immer intensiver steigernd, bis es zu einer rhythmischen Raserei anwächst. Dazwischen umherirrend eine einzelne Frau, die zunehmend in Wallung gerät, in eine Art Rausch, bis sie einen Zustand der Ekstase erreicht, sich ihr Körper verkrampft in zuckenden Aufwallungen, weit jenseits rationaler Kontrolle. Minutenlang geht das, ein Zulaufen auf einen Höhepunkt, der zugleich stechender Schmerz ist. Wenige Minuten später: Im Wandsitz sind die zehn Männer an die Rückwand gepresst, zunächst stoisch und ruhig, dann erklingt das erste Stühlen, beginnen die Knie zu zittern, wird die Szenerie zu einem Ankämpfen gegen diesen Schmerz, einen Schmerz, den zuzulassen, Schwäche bedeuten würde. Und so harrt man aus bis zum Zusammenbruch. Es sind diese beiden, quälend langen und langsamen, beinahe wortlosen Szenen, die den Abend, den Angélica Liddell, auf die Bühne bringen will, am treffendsten charakterisieren. Um Begehren und Schmerz, um die Untrennbarkeit von Liebe und Leiden soll es gehen. Und so macht sie den Konflikt in der einen Szene erleb-, den Schmerz in der zweiten sichtbar.

Es sind zwei Szenen, die für sich stehen können – und für die Spezies Mensch, die das Glück nicht ohne das Unglück zu denken vermag, für die Liebe und Nähe zugleich begehrenswert wie zu fürchten sind, weil die Vereinigung mit dem Anderen das Primat des Individuums zu gefährden scheint. Und so begleitet der Schmerz die Liebe – unweigerlich. So weit so gut, doch schon beginnen die Probleme: Deren erstes ist die Wahl der Vorlage. Liddell bezieht sich auf die Geschichte der Lukrezia, die, von einem Römer vergewaltigt, in den Selbstmord geht, um die eigene Reinheit wiederzuerlangen. Bei Angélica Liddell wird daraus eine Liebesgeschichte, ihre Lukrezia verliebt sich in den Peiniger und heiratet ihn, bei ihr wird der Schmerz zum Lustempfinden. Es ist eine narrative Umdeutung, die dem Zuschauer einiges abverlangt – und ihm zurecht schwer im Magen liegt. Da erscheint die erwähnte Trommelszene plötzlich als symbolische Darstellung der Vergewaltigung – mit einem ekstatischen Opfer im Zentrum.
Und spätestens hier kippt der Abend ins plakativ Provokative. Angélica Lidddl hat sichtlich Lust am Spiel mit dem Undenkbaren und zugleich fehlt jeder spielerische Gestus. Stattdessen zelebriert sie die Paarung von Schmerz und Liebe mit heiligem Ernst. Zehn Kinder lässt sie auftreten, als Symbole einer Unschuld, die jegliche Lust, jedes Leben negiert, weil sie das Dunkle, den schmerz nicht zulässt. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, Zielscheibe der Mordfantasien von Loddels Lukrezia zu werden. Rot ist der Boden vor der Kulisse eines venezianischen Palasts. Waschungen werden vorgenommen, Adam und eva erscheinen, ein ukrainischer Männerchor singt Sakrales, Weintrauben werden – zu passenden Bibelzitaten – zertreten, am Ende sinkt ein Leichenwagen herab, darauf ein gemeucheltes Biest mit Engelsflügeln. Liddell bedient sich lustvoll katholischer Bilderwelten, die sie durchaus konsequent ins Gegenteil verkehr, die sie besudelt mit dem Unreinen, das hier für das leben zu gelten hat.
Schnell wird die behauptete Einheit von Schmerz und Lust zur bloßen Behauptung, erscheinen die Ausdrucksmittel – hier die christliche Symbolik – als eigentliches Ziel. Die Lust an der Provokation gerät so zur wichtigsten Triebfeder des Abends. Dies ist die wesentliche Aufgabe der Vergewaltigungsumdeutung, dem dient die über weite strecken leere Langsamkeit, die vielen entblößten Genitalien und Masturbationsbewegungen – noch während des immerhin unterhaltsamen zehnminütigen Schlussapplauses – die Pervertierung katholischer Ikonographie, die symbolische Schändung kindlicher Unschuld. Das vermeintliche Thema ist schnell abgegessen, was bleibt, sind Effekthascherei und verstaubte Schockreflexe, die überraschend viele Besucher aus dem Saal treiben. was bleibt, sind zwei starke Bilder, die die Keimzelle eines großen Abends hätten sein können. Doch den wollte oder konnte Angélica Liddell nicht zulassen. Und so ist You Are My Destiny nicht viel mehr als das Aufstampfen eines störrischen Kindes, das um Aufmerksamkeit buhlt. Statt auf die große Festivalbühne passte es besser in einen Sandkasten.