Ein Traum vom Himmel

Dea Loher: Gaunerstück, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Alize Zandwijk)

Von Sascha Krieger

„Ein Stück vom Himmel“ (um mit einem Herbert-Grönemeyer-Zitat zu beginnen): Das ist es, was Maria und Jesus Maria, Zwillinge eines weggelaufenen Vaters und einer alkoholkranken Mutter, wollen, und sei es auch noch so klein. In Alize Zandwijks Uraufführung des neues Stücks von Des Loher setzt Bühnenbildner Thomas Rupert die beiden in ein vage himmelblaues Zimmer. Doch der Raum ist, abgesehen von zwei Waschmaschinen und ein paar Matratzen leer, die Farbe schmutzig und längt in großen Fetzen abblätternd. Ein Wartesaal des einst versprochenen schönen Lebens, eine Vorhölle, aus der sie an diesem Abend nicht herauskommen werden. Und die bevölkert ist von so manchem seltsamen Personal: Da ist Porno-Otto, Macher und einst Darsteller entsprechender Filme, Madame Bonafide, Hellseherin mit unentscheidbarer Provenienz und Geschlechterzuordnung, und Herr Wunder, Juwelier mit unentschiedener Sinnfrage. Am Ende sind – wir sind schließlich bei Lohet – zwei der fünf tot und die Zwillingen stehen – im Wortsinn – am Anfang. Und doch ist da so etwas wie Hoffnung, scheint das meist ins Zwielicht getauchte dreckige Blau urplötzlich ein ganz klein wenig reiner.

Foto: Sascha Krieger
Foto: Sascha Krieger

Lohers Dramen sind seit jeher nie nur als realistisch zu lesen. Gaunerstück spielt mit der multidimensionalen Gratwanderung – zwischen Realismus und Phantasie, zwischen Milieuschilderung und Thesenstück, zwischen naturalistischem Drama und Parabel, gar Märchen – auf eine virtuose Weise, wie man sie bislang auch von ihr nicht kannte. Das beginnt bei den Protagonisten: Prekär Aufgewachsene ohne Chance und doch auch Embleme, Ikonen, Abstraktionen. Ihre Namen stammen aus der christlichen Leere, assoziieren sie mit Reinheit, Unschuld, Heiligkeit – und sind zugleich Ausrufe: des Erstaunens, der Dankbarkeit, des Fluchens. In ihnen ist schon alles Angelegt, das Hohe wie das Niedrige, Schönheit und Hässlichkeit, Triumph und Resignation, Erfolg und Versagen. Und so ist Gaunerstück in erster Linie ein Versuchsraum der Möglichkeiten, ein Spielfeld der Imagination. „Wenn mich einer fragte“: So beginnt Jesus Maria seine Geschichten. Er erzählt, erfindet, probiert aus. Er imaginiert.

Zandwijk verteilt die beiden Hauptpersonen auf vier Spieler. Sie treten mal gemeinsam, quasi zwillingshaft, auf, nur um gleich wieder auseinander zu driften, in verschiedene Aspekte des vermeintlich Identischen. Sie erzählen zunächst vereinzelt, dann als Kollektiv, spinnen ihre Geschichte als gemeinsames Narrativ, als Gruppenphantasie, als imaginierter Lebensentwurf. Lochers ist ein narrativer Text, in dem jegliche Spielszenen Teil der Erzählung sind. Zandwijk teilt sie auf, in längeren Einzelerzählerstrecken oder auf mehrere Stimmen verteilt, zuweilen, wenn auch immer nur ganz kurz, chorisch verdichtet. So kommt nie Monotonie auf, entwickelt sich der Text quasi vor unseren Augen und Ohren, als gerade entstehende Lebensvision. Und er steht nicht allein: Beppe Costa, der auch den Porno-Otto gibt, streut meist gitarrenlastige, stets sehnsuchtsvoll melancholische Musik ein, die zwischen den Worten schwebt, sie mal konterkariert, mal schweben lässt, die Schwere so mancher Passage akzentuiert und ihr entgegensteuert. hinzu kommen Choreografien Miquel de Jongs, der auch einen der beides Jesusse spielt, Entladungen von Hoffnung und Verzweiflung, Verlangen und unerfüllter Sehnsucht, naiver Jugendlichkeit und abgeklärter Desillusionierung ins Körperliche. Sie fließen aus dem Text und in ihn zurück.

Und das ist wohl die größte Stärke, das eigentliche Wunder des Abends: Lochers farbenreichen, ambivalenten, imaginativen Text nicht nur zu erzählen und zu illustrieren, sondern ihn in weitere Sphären, die der Musik und des Tanzes, zu heben, die organisch aus ihm zu erwachsen scheinen. Der Text ist so reich, dass er sich ganz natürlich auf andere, wortlose Erzählebenen transponieren lässt, die nie nebeneinander stehen, sondern gemeinsam ein multisensuales Narrativ bilden. Das vom Erwachsenwerden erzählt, vom Aufbruch in ein Leben zwischen Phantasie und realem, das Grenzen zwischen Beidem nicht zulässt, ein Nutzen von Chancen, die keiner je hatte. Hans Löw ist ein wunderbarer, störrisch hoffnungsvoller, in all seiner Verzweiflung gewollt kindlich naiver Jesus, Judith Hoffmann eine sachliche, pragmatische Maria, deren Träume stets durchscheinen, mit Fanta Sorel als ihrem kindhaft enthusiastischen Komplementär. Elias Arnes repräsentiert als Bonafide und Wunder die nicht greifbare Außenwelt, unscharf wie im Traum, der dieses Spiel mit seinen pantomimenhaften Wiederholongsorgien – bei denen die Waschmaschinen, Symbol der Mutter, einer einsamen Wäscherin, und damit eines schicksalhaften Verhaftetseins, aus dem beide herauswollen – und Zeitlupenszenen immer auch ist. Hier ist nicht real und zugleich alles. Die Erlösung, die in den Namen der Zwillinge angefacht ist – sie ist unendlich fern und doch so nah zugleich.

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