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Die neue Leitung des Maxim Gorki Theater stellt ihre erste Spielzeit vor

Von Sascha Krieger

Die Theaterferien sind vorbei, die ersten Premieren der Spielzeit gehen über die Bühnen der Hauptstadt, ganz Berlin spielt wieder Theater. Ganz Berlin? Nein. Das gallische Dorf der Berliner Theaterszene ist in diesem Jahr das Maxim Gorki Theater. Ausgerechnet jenes Theater, das in den sieben Jahren der Intendanz Armin Petras Jahr für Jahr Premieren im Schnellfeuermodus auf die Bühne brachte, lässt sich nun Zeit. Das ist nicht unverständlich, schließlich steht dem Haus ein drastischer Umbruch bevor: Nicht nur ist die Intendanz neu, fast das gesamte Ensemble wurde ausgetauscht, ein Großteil des restlichen Teams, keine einzige Inszenierung übernommen. Das braucht Zeit und so beginnt die erste Spielzeit der neuen Ära erst im November. Vorgestellt wurde sie jetzt.

Shermin Langhoff und Jens Hillje, Intendantin und Co-Intendant des Maxim Gorki Theater (Foto: Esra Rotthoff)
Shermin Langhoff und Jens Hillje, Intendantin und Co-Intendant des Maxim Gorki Theater (Foto: Esra Rotthoff)

Shermin Langhoff und Jens Hillje bilden das neue Intendantenteam. Langhoff hat sich als Leiterin am Kreuzberger Ballhaus Naunynstraße einen Namen gemacht, an dem auch Hille arbeitete, beispielsweise als Co-Autor des Erfolgsstücks Verrücktes Blut, das den Begriff „postmigrantisches Theater“ in der deutschsprachigen Theaterlandschaft bekannt machte und das, vielleicht als eine Art Glücksbringer, mit dem neuen Team an ihre zukünftige Wirkungsstätte wechseln wird. Ist das neue Gorki also Deutschlands erstes postmigrantisches Stadttheater wie a auch Langhoff die erste türkischstämmige Stadttheaterintendantin in Deutschland ist?

Manches spricht dafür. So finden sich zahlreiche Schauspieler mit Migrationshintergrund im neuen siebzehnköpfigen Ensemble, dem mit dem Gorki-Urgestein Ruth Reinecke lediglich ein bisheriges Ensemblemitglied angehören wird. Von den drei Hausregisseuren gelten zwei zumindest teilweise als Spezialisten für postmigrantische und im allgemeineren Sinne Identitätsthemen – neben Nurkan Erpulat, dessen Rückkehr nach Berlin als erster größerer Coup der neuen Leitung bezeichnet werden könnte, auch die israelische Regisseurin Yael Ronen, die bislang unter anderem an der Schaubühne arbeitete. Und auch der dritte im Bunde, Sebastian Nübling, ist mit seinen nicht selten paneuropäischen Arbeiten – allen voran Three Kingdoms – ein Identitätssucher und Grenzüberschreiter. Auch andere Regisseure der Eröffnungsspielzeit, darunter Hakan Savaş Mican, Neco Celik und Lukas Langhoff, aber auch ein Grenzgänger des Theaters wie Falk Richter, weisen in eine ähnliche Richtung.

Und doch greift der Begriff „postmigrantisch“ ein wenig zu kurz. Primär geht es um Identität, um „Selbstbestimmung und Selbstverortung“, wie es Langhoff ausdrückt. Dafür steht das umgedrehte R im neuen Gorki-Schriftzug – ein kyrillischer Buschstabe, der im Russischen auch das Wort „ich“ bildet“. Er ist auch Namensgeber des umbenannten Gorki-Studio, das unter Leitung der – in der Sowjetunion geborenen – Autorin Marianna Salzmann stehen wird und Experimentierfeld sein soll für unterschiedlichste Auseinandersetzung mit Identitäten und dem weiten Feld dessen, was es heißt, „ich“ sagen zu können. Eröffnet wird es mit Salzmanns Stück „Schwimmen lernen“, einem Text über junge Menschen auf der Suche nach sich selbst und der Welt – auch dies ein Schwerpunkt der ersten Spielzeit.

Und es geht um Übergänge – persönliche und gesellschaftliche. Nicht zufällig steht Volker Braun Die Übergangsgesellschaft auf dem Spielplan der ersten Spielzeit – ein Schlüsselstück des Theaters, dessen wechselvolle Geschichte in der Programmgestaltung immer auch mitschwingt. Auch in der ersten Premiere geht es um eine Übergangsgesellschaft: Nurkan Erpulat inszeniert Tschechows Der Kirschgarten. Premiere ist am 17. November, zwei weitere Premieren – neben Schwimmen lernen die Romanadaption Der Russe ist einer, der Birken liebt nach Olga Grasnowa in der Regie von Yael Ronen – folgen noch am gleichen Wochenende.

Los geht es aber schon neun Tage zuvor: Offenbar teilen Langhoff und Hille Armin Petras‘ Liebe zu festivalartigen Schwerpunktblöcken: So hatte Petras seine Intendanz mit dem Spektakel „Fünf Tage im Juni“ beendet. Langhoff und Hille starten mit dem „Berliner Herbstsalon“, einer (im Namen schon in die Berliner Kunstgeschichte zurückreichenden) interdisziplinären Auseinandersetzung zahlreicher Künstler mit der Bildung von Identitäten. Auf historischem Grund in der Mitte Berlin soll es auch um die deutsche Geschichte, die deutsche Identität, ihre Herleitung und Brüche – und mit ihr allgemein um Möglichkeit und Unmöglichkeit von Identitätsbildungen – gehen. Ein ebenso ambitionierter wie programmatischer Auftakt, der ein wenig Hilljes Behauptung, man werde keine Spielzeitmotti setzen, wiederspricht. Klare thematische Linien sind klar zu erkennen und zweifellos auch gewollt.

Das gilt auch für das Thema Nachwuchsförderung: Neben der Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der Leipziger Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“, in deren Rahmen acht Schauspielstudenten ihr Abschlussjahr am Theater verbringen werden, stehen dabei Kooperationen mit dem Ballhaus Naunynstraße, zum Beispiel die Inszenierungsreihe „Dogland 2“ und die Literaturwerkstatt „Neue Deutsche Stücke“. Dazu passt auch der niedrige altersdurchschnitt des Ensembles: Acht der siebzehn Schauspieler sind jünger als 30 Jahre, darunter einige, die frisch von der Schauspielschule kommen.

Die neue Intendanz des Maxim Gorki Theater wagt also einen echten Neubeginn, einen radikalen Bruch, der gespannte Erwartungen birgt: an ein Theater, das im Hier und Jetzt wie kein zweites Fragen stellt an diese Gesellschaft und ihren Zusammenhalt, das fragt, worin Identität besteht und das Stimmen die Tür öffnet, die bislang im Stadttheater kaum Gehör fanden, das die Lebenswirklichkeit jenseits einer vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft ins Theater holt. Ob man den Begriff nun mag oder nicht: Es ist höchste Zeit, dass auch das postmigrantische Theater und die Erfahrung von Welt und Leben, die es repräsentiert, seinen Platz auch jenseits der freien Szene findet. Das „neue“ Maxim Gorki Theater ist daher mehr als nur ein spannendes Experiment – es ist auch ein äußerst notwendiges.

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