Wie im Fieber

Fjodor Dostojewski: Die Wirtin, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Frank Castorf)

Von Sascha Krieger

Es beginnt zunächst mit dem Gefühl des Gewohnten: Castorf und Dostojewski, das ist mittlerweile eine lange Erfolgsgeschichte voller spannender, komplexer, eklektischer, zuweilen ausfasernder, aber auch stets auf-, oft er- und zumeist anregender Theaterabende, die nicht selten mehr mit uns und der Befindlichkeit der heute Lebende zu tun hatten als mit Dostojewski. Das war zuletzt beim Spieler so und das war auch zu erwarten oder mindestens zu erhoffen, als Castorf von den Romanen zu den Erzählungen des großen russischen Autors wechselte. Zweieinhalb Stunden später – ein Zeitpunkt, an dem bei Castorf normalerweise erst Pause ist – ist klar, das wenig so ist, wie es war. Fast scheint es, als wäre Frank Castorf für Dostojewskis Erzählungen noch mal zurück auf Anfang gegangen. So geradlinig, kompakt und in sich selbst ruhend war lange kein Castorf-Abend mehr – es ist seine Stärke und seine Schwäche zugleich.

Die Wirtin Frank Castorf
Russische Wahnwelt (Foto: Thomas Aurin)

Mit Die Wirtin hat sich Frank Castorf einen wenig bekannten Stoff ausgesucht und einen, der durchaus Ausgangspunkt für einen „typischen“ Castof-Abend hätte werden können. Die Wirtin erzählt die Geschichte des jungen Möchtegern-Intellektuellen Ordynoff, der sich in einer Kirche in eine Unbekannte verliebt, ein Zimmer bei ihr und dem undurchsichtigen Murin, mit dem sie lebt, mietet und sogleich in einen Fieberwahn fällt, der die Grenzen von Phantasie und Realität verwischt, ein Verwischen, dass Dostojewski bewusst nicht auflöst. Wie viel an dieser bizarren und zerstörerischen Dreiecksgeschichte, die nach und nach die dunklen Geheimnisse Katerinas aufdeckt, wirklich geschieht und wie viel (Fieber-)Traum ist, bleibt unklar.

Bert Neumann hat dafür ein grandioses Bühnenbild geschaffen, eine schwarze Holzhütte, ein paar erdbedeckte Wege, ein Brunnen, ein Block zum Holzhacken – ein düster-fiebriges Aptraumset, eine kahle Mondlandschaft menschlicher Obsessionen. Viel passiert im Inneren der Hütte, sichtbar nur auf einer grobkörnigen Videowand im Bühnenvordergrund. Auch dies ein passendes Bild: Denn so abgeschottet der Raum, so hermetisch wirkt auch das Geschehen. Hier zerfasert nichts, weist nichts nach außen oder über die Zeitgrenzen hinweg, bleiben Castorfs Sekundär- und Fremdliteraturschlachten, seine selbstreflexiven Semi-Improvisationen, seine wilden Assoziationsketten in der Schublade. Hier bleibt alles im Dreieck gefangen: zwischen dem panisch getriebenen Ordynoff Trystan Pütters, der unantastbar traurig-abwesenden Katerina Kathrin Angerers und dem animalisch tobenden Murin Marc Hosemanns.

Die drei bilden ein Triptychon der Besessenheit, gefangen zwischen Sehnsüchten, verzweifeltem Verlangen und dem tonnenschweren Gepäck, das ein jeder mit sich herumschleppt. Gefangen vor allem aber in sich selbst, den eigenen Dämonen und Traumata und Ängsten. Nähe ist hier kaum möglich. Wenn Ordynoff Katerina seine Liebe gesteht, ist sie abwesend. Einmal trägt er einen Fernseher herum, in dem Katerinas Gesicht erscheint – näher wird er ihr nicht kommen. Wie die Figuren kaum der Hütte entkommen, so kreisen sie unaufhörlich um einander und vor allem um sich selbst. Da ist kein Vorankommen, immer wieder kehrt man zurück zu den gleichen Worten, den gleichen Konstellationen, dem gleichen Schmerz, der nie irgendwo hinführt, sondern sich schon fast psychotisch nach innen, gegen sich selbst kehrt.

Zwanghaft kreisförmig sind die Bewegungen, wild rasend der Text: Beides führt nirgends hin als immer tiefer in den Wahn hinein. Bei Dostojewski ist dies auch ein religiöser, ein Zwang permanenter Selbstkasteiung, die Gier danach, für vermeintliche Sünden büßen zu müssen. Castorf klammert diese Ebene nicht aus, legt das kollektive Fieber aber universeller an. Der Rausch, den er darstellen will kann ein religiöser sein, aber auch ein intellektueller, einer des Einander-Begehrens und gleichzeitigen Sich-Abstoßens und vielleicht, nein, wahrscheinlich ist es stets derselbe. Castorf interessieren hier mehr die Seelenzustände als die vermeintlich „großen Themen“, Seelenzustände, die er nicht psychologisiert, sondern wie Schauobjekte ausstellt, von den den Figuren getrennte Archetypen menschlicher Obsession.

Und hier liegt das Problem des Abends. Mit Ausnahme eines kurzen stilleren Zwischenspiels, in dem nacheinander Katerinas Mutter (Bärbel Bolle) und Vater (Volker Spengler) auftauchen, agieren die Darsteller durchgehend und ohne Pause in maximalem Erregungszustand, bewegen sich die Figuren durchgängig am Rande des Zusammenbruchs, lässt Castorf keine Nuancen zu. Der seelische Ausnahmezustand, der hier vorgeführt wird, erschöpft nicht nur sich zunehmend in Dauergebrüll und höchstem Körpereinsatz, im theatralischen Herumgerenne und nicht enden wollendem Dauerhöhepunkt – er erschöpft auch das Publikum. Der dauerhafte Alarmzustand erzeugt gerade nicht die Intensität, die Castorf wohl vorgeschwebt hat: Statt Rauschzustand erlebt der Zuschauer eine Krawallwand, an der er immer und immer wieder abprallt. Hier ist mehr weniger und hilft auch Hendrik Arnst nicht viel, der als Freund Ordynoffs gelegentlich das Tempo herauszunehmen und die Temperatur herunterzudrehen versucht.

Über zu weite Strecken wirkt die Dauererregung dann doch zu aufgesetzt und erzeugt eine Distanz, die dem Abend nicht gut tut. Zumal dieser zum Ende hin, nach dem Erwachen aller aus dem Fieberwahn nicht nur deutlich ab- sondern auch weitgehend zerfällt. den plötzlich ist doch noch Gegenwart, huschen Andeutungen zu Pussy Riot über die Bühne,  wir der Hausherr und Regisseur ironisch erwähnt, wird die Berliner Wirklichkeit per Transparent auf der Bühne ausgebreitet. Das wirkt hilflos und wie zwanghaft aufgesetzt, ein Fremdkörper, von dem man nicht weiß, wie er hier hineingeraten ist und vor allem warum. Nötig hätte der Abend es nicht, der lange Zeit ein durchaus spannender Alternativentwurf zur bekannten Castorf-Ästhetik ist und noch mehr Abkehr vom Gewohnten vertragen hätte. Aber zumindest das Trio Angerer, Hosemann und Pütter vergisst man so schnell nicht.

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