Das vervielfachte Nichts

Samuel Beckett / Morton Feldman: Footfalls / Neither, Staatsoper im Schiller Theater, Berlin (Regie: Katie Mitchell)

Von Sascha Krieger

Schon der Titel ist programmatisch: Neither heißt das kurze, 16-zeilige Gedicht Samuel Becketts, dass der amerikanische Komponist zur Grundlage seiner gleichnamigen Oper gemacht hat. Dieses Wort, zu Deutsch „weder“, deutet ein Dazwischen, ein schweben zwischen Sein und Nicht-Sein an, wie es in Becketts Werk immer wieder vorkommt. Das gilt für die frühen, bis heute beliebten Stücke, für Warten auf Godot etwa oder Endspiel, für Glückliche Tage ebenso wie für Das letzte Band. Becketts Figuren bewohnen ein Zwischenreich, in dem Zeit keine Rolle mehr spielt, das keine Vergangenheit hat, weil es keine Zukunft gibt, eine Welt des Stillstands, die sich ein Außen, ein Universum außerhalb des abgegrenzten Spiel-Raums nicht mehr vorzustellen vermag. Beckett beschreibt die moderne Wirklichkeit ebenso wie das emanzipierte Ich als essenziell undurchdringbar, jeder Versuch, das komplexe, widersprüchliche Draußen zu durchdringen, ist zum Scheitern verurteilt. Es ist eine Weltsicht, die sich in seinem Spätwerk noch verstärkt, indem er sie verdichtet, abstrahiert, entmenschlicht. Footfalls ist ein Beispiel: Eine einsame Frau wiederholt immer und immer wieder die gleiche Schrittfolge, kommuniziert mit einer Off-Stimme, die Mutter offenbar, später mit sich selbst, um am Ende ganz zu verschwinden. Bewegung wird hier zum Instrument und Ausdruck des Stillstands, zum Selbstzweck, der keinerlei Ziel mehr dient.

Foto: Stephen Cummiskey
Foto: Stephen Cummiskey

Katie Mitchell inszeniert werktreu: Graublau die Wand wie das Kleid, das May (Julia Wieninger) trägt, rechts eine geöffnete Tür, aus der Licht fällt, darüber zwei Deckenleuchten. Abweichend nur die zweite, geschlossene Tür am linken Rand. Wieninger geht, hin und her, zunächst flüssig, später immer stockender, um jeden Schritt ringen. Die Worte fallen klar, ausdruckslos, wohlgeformt und doch leer. Auch die Sprache ist so ein sinnentleertes Instrument des Weitermachens, wo längst nichts mehr zu tun ist. Ein Entrinnen gibt es ebenso wenig, die Tür leibt unerreicht. Mitchell gelingt in der Konzentration von Sprache und Bewegung, von Licht und Stille, ein atmosphärisch ungemein dichtes Bildhoffnungsloser Verlorenheit, die jegliche Verzweiflung längst hinter sich gelassen hat. Dieses Universum, visuell irgendwo zwischen der kalten Glätte Edward Hoppers und der kosmischen Einsamkeit René Magrittes angesiedelt, ist ein leeres, nicht zu füllendes.

Das Mitchell jedoch im Gegensatz zu Beckett nicht entleert. Im Gegenteil: Statt May verschwinden zu lassen, multipliziert sie sie. Die Musik Morton Feldmans setzt ein, ein fünfzigminütiger stillstand ständiger Wiederholung, das mal an-, mal abschwillt und doch nirgendwo hin kann. Die Rückwand hebt sich, eine zweite erscheint, davor eine zweite May, ein zweites Parr Lampen, zwei weitere Türen. Am Ende ist der Ursprungsraum versechsfacht, neun Mays gehen vor und zurück, den Rhythmus der Musik aufnehmen, zuweilen innehaltend. Sie gehen schnell und langsam, im Gleichschritt oder vermeintlich individuell, bleiben stehen, an die Türen gelehnt, oder rennen auf diese zu, die sich öffnen und schließen und die nie durchschritten werden können. So sinnlos das Leben erscheint, entkommen lässt es sich ihm nicht. Die Multiplikation macht die Einsamkeit, die Leere viel sicht- und greifbarer, als bloße Abwesenheit es gekonnt hätte.

Katie Mitchell inszeniert Neither als Fortsetzung von Footfalls, als seine Verewigung in nicht enden könnender zielloser Bewegung. Sopranistin Julia Aiken, die im zweiten Raum geht, singt den in reinen Klang umgewandelten, zerdehnten, fragmentierten und in keiner Sekunde mehr als solchen wahrnehmbaren Text mit größter Klarheit, dynamisch variabel sämtliche Grautöne durchschreiten. Die Musiker der Staatskapelle, geleitet von Francois Xavier Roth, nimmt den Minimalismus der Inszenierung auf und reduziert die Musik auf ihren rauen, kantigen Kern. Der Effekt ist zunächst eine ungeheure Intensität, eine visuell-musikalische Poesie der Verlorenheit in einem Universum, das sich längst nicht mehr erfassen lässt. Dass der Abend seine Dichte irgendwann verliert, liegt an dem, was ihn zu Beginn so stark gemacht hat: Die Parallelität der unbarmherzigen Wiederholung – in Musik, Bewegung, Licht, Raum, erschöpft sich mit der Zeit, die doch hier eigentlich negiert werden soll. Und doch zeigt sie sich unerbittlich: Die atmosphärische Dichte verwandelt sich in Behauptung, die Konzentration in bloße Form, die Intensität in Langeweile. So schlüssig Mitchells Regiekonzept ist: Es trägt nicht über die gesamten 75 Minuten hinweg, so dass am Ende der schnöde Schein der Außenwelt und sein grotesker Narr, die Zeit, triumphieren. Ein starker Abend, dem letztlich jedoch einiges fehlt, um ein großer zu sein.

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