Leise rieselt der Sand

Rik van des Bos: Leerlauf, Deutsches Theater/Box, Berlin (Regie: Marvin Simon)

Von Sascha Krieger

Grau sind die lackierten Dielen, die Bühnenbildnerin Merlin Vierck in der Box des deutschen Theaters zu einem Quadrat aufgebaut hat. Darauf hastet Thorsten Hierse als ehemaliger Soldat Birke, der eigentlich Thomas ist. Unaufhörlich, immer im Kreis. An- und innehaltend nur, um an den Dielen zu horchen oder auszubrechen in Schrei- oder Lachkrämpfe. Schon wenn das Licht angeht, ist der senffarbene Schlabberpulli, den er trägt, schweißnass, Schweißtropfen fallen von seinem Gesicht auf die Bohlen seines selbstgewählten Gefängnisses. Birke war in Afghanistan, hat dort seinen besten Freund verloren und das Gehör seines rechten Ohres. Um zu erkennen, dass das beileibe nicht alles ist, genügt ein Blick. Er ist ein Gehetzter, ein Gefangener seiner Erlebnisse, der Schuld, auch jener, überlebt zu habe. Zurückgekehrt in eine Welt, die nicht mehr die seine ist und der er sich entzieht. Einer, den der Krieg nicht loslässt, einer, in dessen Adern kein Blut fließt sondern Sand. Sand, das steht für Afghanistan und damit den Krieg. Der Krieg ist in ihm, hat diesen Körper, diese Seele übernommen.

Es ist ein einfaches, etwas plakatives Bild, das Marvin Simon, Regisseur der Uraufführung von Rik van den Bos‘ Stück, reichlich strapaziert. Da rieselt mal Sand von der Decke, den Birke hektisch aufzuwischen versucht. Später erzählt er von einer Hausdurchsuchung in Afghanistan und illustriert das Aufreißen der Türen mit dem Herausreißen der Dielen, unter denen was hervortritt? Sand natürlich. Leerlauf ist ein Abend der einfachen Bilder, der simplen Illustrationen, der Überdeutlichkeiten. Das gilt für die Regie, die mitten in einer Dialogszene das Einbrechen der Erinnerung an besagte Hausdurchsuchung markiert, in dem das Licht gedimmt und durch gespenstisch tastende Spots ersetzt wird – geht die Szene weiter, geht das Licht wieder an. Und dieser Hang zur Überdeutlichkeit prägt auch Hierses Spiel: Bis fast zur Erschöpfung hetzt er über die Bühne, reizt jeden Gesichtsausdruck bis zum Anschlag auf, brüllt, was das Zeug hält und blickt eindrucksvoll wahnsinnig umher. Da schreit das Leiden aus jeder Bewegung, als müsse es uns – und sich? – von seiner Existenz immer und immer wieder überzeugen.

Leerlauf handelt von den namenlosen Wunden, die der Krieg im Menschen schlägt – und vom Unverständnis, das diesem Leiden entgegenschlägt, der Unmöglichkeit es zu vermitteln. Eine Unmöglichkeit, die wiederum Leid erzeugt. Davon erzählt Bouwman (Jörg Pose), der Vater des toten Kameraden, eine wahrhaft verlorene Seele. Das berührt, wie Pose in Kampfmontur mit Fallschirm auf der Bühne „landet“, versucht sich aus den Stoffmassen zu kämpfen, und doch immer verstrickt, gefangen bleiben wird. Pose spielt ihn als tieftraurigen, einsamen, rast- und hoffnungslosen Sucher, der Kriegsschauplätze abklappert und Antworten ersehnt, von denen er weiß, dass es sie nicht gibt. Er will verstehen und weiß, dass er es nicht kann. „Wie soll ich das vergessen? Ich habe es nicht mal erlebt“, sagt er. Flehend und tonlos zugleich. Ein lebender Toter, ein Alptraumwandler. „Ich suche meinen Sohn“, sagt er, worauf Birke erwidert: „Dein Sohn ist tot.“ „Das ist kein Grund, mit dem Suchen aufzuhören“, antwortet Bouwman.

Poses Bouwman ist die wahrhaftige Figur an diesem Abend, einer, der reduziert, wo Hierse dick aufträgt, dessen knappe Sentenzen tief ins Mark treffen, wo Birkes Worte Behauptung bleiben. Das muss vielleicht auch so sein, denn eigentlich leidet Leerlauf genau an dem, was es thematisiert: der Unmöglichkeit des Verstehens. Wo Bouwmans zielloses Irren im Bedeutungssumpf nachvollziehbar ist, bleibt uns – und wohl auch Autor und Regisseur – das Leiden Birkes fremd. Ihm können sie nur mit grell plakativer Überzeichnung begegnen – und entfernen es dadurch umso mehr. Und so bleibt vor allem Jörg Poses Verständnis suchender blick, sein leises Flehen im Gedächtnis, liegt hier das Wahrhaftiges des Abends. Eines, der ebenso wie das Stück genau dort scheitert, wo er triumphiert, der die Unmöglichkeit des Verstehens eindringlich vorführt und doch eigentlich verstehen will. Und auch hier ist er bei Bouwman: Er weiß, dass er das Erlebte nie ergründen kann – und bleibt in diesem Wissen doch dabei, es weiter zu versuchen.

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