Wo die Sterne hagelvoll sind

Paul Lincke: Frau Luna, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Herbert Fritsch)

Von Sascha Krieger

Eines muss man Herbert Fritsch lassen: Wenn er inszeniert, ist das nie eine ganz normale Premiere. Es gibt jene, die ihn als Maestro der Sinnfreiheit sehen und ihn dafür als ernstzunehmenden Theatermacher verwerfen – und jene, die ihn aus dem gleichen Grund als Heilsbringer des Theater feiern. Jene, die ihn irgendwo dazwischen ansiedeln oder ihm gar Sinnhaftigkeit seines Tuns unterstellen wollen, sind schon längst in der Minderheit. Man hat den Eindruck, das ist Fritsch ganz Recht. Zu polarisieren hat er an der Volksbühne unter Frank Castorf gelernt und auch, dass es besser ist, Abneigung zu erzeugen als Gleichgültigkeit. Das wird ihm auch diesmal gelungen sein mit seiner neuesten Genreerweiterung. Operette hat er schon einmal in Bremen inszeniert, jetzt vergreift er sich ausgerechnet an seiner alten Heimat am Berliner Operettennationalheiligtum aus einer Zeit, in der die Operette im Kulturbetrieb noch vorkam: Paul Linckes Frau Luna. Ob es ihm gelungen ist, die Kunstform – oder sollte man sagen das Unterhaltungsformat? – Operette wieder zu so etwas wie Relevanz zu bringen, bleibt fraglich. Ein ungemein spannender, amüsanter, unterhaltsamer und – einmal mehr auch erstaunlich vielschichtiger – Abend ist das allemal.

Foto: Thomas Aurin
Foto: Thomas Aurin

Natürlich sind sie alle da: die zappelnden, in den grotesken Schulterpolster-, Rüschen- und fleischfarbenen Zweite-Haut-Kreationen steckenden Selbstverbieger, Hinfaller, Grimassierer und Dauerzucker des Fritschschen Figurenfundus. Da denkt man unweigerlich an die sprichwörtliche Faust auf dem ebensolchen Auge, denn ist denn nicht schon die Originalgeschichte der vier waschechten Berliner, die in einem selbstgebauten Ballon zum Mond fliegen, dort unter allerlei seltsame Gestalten und in so manche Liebesverwicklung – natürlich mit Happy End – geraten, nicht ohnehin schon vollkommen abstrus, selbst wenn man das reichlich unterkomplexe Libretto von Heinz Bolten-Baeckers mal außer Acht lässt? Fritsch nimmt den „Geist“ des Stücks auf, dreht ihn genüsslich weiter, bis das Gewinde knirscht und kehrt ihn letztlich gegen sich selbst.

Das sieht dann so aus: Ist die Vorlage schon voller, reichlich alberner und irgendwo zwischen Anzüglichkeit und Prüderie wandelnder Wortspiele und Kalauer, wird einfach weiter gekalauert, aus Zweideutigkeiten Eindeutigkeiten gemacht. Da strotzt es nur so von Freudschen Versprechern, die alle im Sexuellen landen. Aus „Und füge dich in dein Schicksal“ wird dann „Und vögel mich in den Fickschall“. Ohne Zweifel, das ist albern, es entbehrt aber eben auch nicht einer gewissen Wahrheit in  einer Inszenierung, welche die oberflächlichen Liebesverwicklungen als das entlarven, was sie sind: Versuche, das Gegenüber – egal welchen Geschlechts – ins Bett zu bekommen. Die komisch-sexuellen Verrenkungen – der Sprache wie der Körper – bilden das Grundgerüst des Abends, die Fassade bürgerlichen Anstands ist so löchrig, dass allenfalls die Figuren sie noch selbst glauben. Dabei kippt der sexuelle Drang bald ins Obsessive, wird aus der Lust krampfhafter Zwang. Der Sexualtrieb als gesellschaftliches Binde- und Sprengmittel: Ganz neu ist das nicht, ganz falsch aber eben genauso wenig.

Das ist die eine Ebene, die andere ist eine Fritsch-typische Untersuchung der Unterhaltungskunst: Indem er die reine Unterhaltungsform Operette auf die Spitze treibt, sie musikalisch verfremdet – Ingo Günther macht aus Linckes Zuckerwattemusik minimalistischen Elektropop, der mal Kraftwerk zitiert, dann wieder Mozart und in dem erdiger Soul, lateinamerikanische Rhythmen und Fahrstuhlmusik sich ganz wunderbar verbünden – all ihre Entertainmentmechanismen offenlegt, schafft er eine diese sezierende Parodie und reproduziert zugleich ihren Unterhaltungseffekt. Die Dekonstruktion der Operette führt hier zur Rekonstruktion des Entertainment, bei dem der Zuschauer über die Lächerlichkeit des Originalmaterials ebenso lacht wie mit und durch dessen Techniken des Amüsements. Das ist wie eigentlich immer bei Fritsch sinnfrei und sinnhaltig zugleich und nie nur das eine oder das andere – und so manches Mal weder noch. Und als Bonus lernt man so manchen längst zum „Gassenhauer2 (welch passendes Wort) mutierten Schlager ganz neu kennen: Wie den Sängern am Ende der „Berliner Luft“ buchstäblich dieselbige ausgeht, sollte man erlebt haben.

Herbert Fritsch erweist sich erneut als Meister von Timing und Abwechslung. Munter changiert er zwischen den Darstellungsformen: Übertriebener sentimentaler Kitsch wird zu purem Slapstick, extreme Verfremdung folgt auf stimmige Parodie. Ganz wunderbar Prinz Sternschnuppes (Hubert Wild als rührend hilfloser Gockel) Kampf mit dem Klavier und einem viel zu niedrigen Pianistenschemel. Da kommt das geschehen minutenlang fast zum Stillstand und mischt sich ein Fünkchen abgrundtiefe Traurigkeit in den hochkomischen Slapstick. Ein großer Moment auch der Balztanz von Fritz Steppke (Florian Anderer als dauergrinsend-optimistischer Westentaschen-Macho) und Frau Luna, die Ruth Rosenfeld als launige Hollywood-Diva gibt: Da mischen sich romantisierendes Liebeskitsch-Repertoire mit animalisch sexueller Anziehung zu einer Körperorgie, die auch ein klein wenig berührt. Wie auch das wunderbare Koloraturduell von Sternschnuppe und Luna, jenen Liebenden, die nicht zusammen kommen, weil die Anziehung zu anderen doch stärker ist.

Überhaupt die Schauspieler: die zuckerwattehaarige Frau Pusebach der Nora Buzalka – eine im eigenen Sprechrhythmus zuckende Mischung aus herrischer Geste und selbstverlorener Sehnsucht, das energetische Zentrum des Abends. Oder Jakob Krazes halb funktionärshaft-bürokratischer, halb pubertär schwanzgesteuerter Theophil, dessen Outfit irgendwo zwischen Pfadfinder und Zirkusclown liegt. Oder Inka Löwendorfs koloraturenschleudernde Stella, eine selbstbewusste Frau und Männerdompteuse in diesem Flohzirkus der Eitelkeiten. Vervollständigt wir das Ganze vom Chor der Werktätigen als Sternbilder in fleischfarbenen Kostümen und Hauben, die mit Fahrrad und Taschenlampe die Bühne bevölkern.

Frau Luna ist ein typischer Herbert-Fritsch-Abend geworden, will heißen ungemein unterhaltsam und unter der lustigen Oberfläche nicht ohne verborgene Komplexität: albernd kalauernde Slapstickorgie mit wunderschönen Bildern (die zum Bühnenhimmel auffahrende Frau Luna!), Operetten-Dekonstruktion, die alle gängigen Unterhaltungsmechanismen ebenso offenlegt wie sie selbige genüsslich ausschlachtet, post-Freudsche Vorführung des Sexualtriebs als Ventil und Antriebsfeder bürgerlicher Etikette. Wie so oft funktioniert der Abend, wenn man all dies mitdenkt, entdeckt, reflektiert – oder auch, wenn man einfach nur Spaß hat. Das mag für machen Verfechter theatralen Tiefgangs gegen das Fritschsche Theater sprechen oder man sieht es einfach als Rückkehr des Theaters als in erster Linie Unterhaltungsmedium. Theater darf Spaß machen, es darf unterhalten und amüsieren, es darf die Lacherdichte zu einem Kernkriterium seines Erfolgs machen. Bei Herbert Fritsch tut es das und es funktioniert noch immer ganz prächtig. Schlechtes Gewissen? Keine Spur!

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