Anekdoten auf dem Sofa

Christoph Hein: Tilla, Deutsches Theater/Kammerspiele, Berlin (Regie: Gabriele Heinz)

Von Sascha Krieger

Die stärksten Momente hat dieser Abend zu Beginn: Da kämpft sich langsam eine Stimme durch die Dunkelheit. Zunächst ist da leises Gemurmel, dann ein paar Mal, immer lauter, stärker werdend: „Hallo? Ist da jemand?“ Es ist wie eine Geisterbeschwörung, nur anders herum: Hier ist es ein Geist, der die Lebenden beschwört, sich selbst zurückholt aus dem Dunkel ins Licht, für eineinhalb Stunden zurück in das, was einmal ein Leben war. Ihr Leben: Tilla Durieux, legendäre Schauspielerin, ein gefeierter wie angefeindeter Star, der am Deutschen Theater Max Reinhardts mit ihm das deutschsprachige Theater revolutionierte. Wie sie hier auf der Bühne sitzt, über 90-jährig, von allen verlassen, vergessen gar, da ist es, als wäre Erinnerung Fleisch geworden, kehrt die Vergangenheit für einen Moment zurück. Wehmütig, doch ohne Reue, zerbrechlich, doch mit wachem Geist und fester Stimme. Das ist nicht mehr ihre Zeit, sagt sie. Aber es ist ihr Ort.

Und es ist der von Inge Keller, die sie spielt, auch sie ein gefeierter (Theater-)Star, auch sie ehemaliges Ensemblemitglied am Deutschen Theater, auch sie Ehrenmitglied. Sie spielt, selbst 89-jährig, die 91-jährige Tilla am Abend der Verleihung ihrer Ehrenmitgliedschaft. Regie führt Gabriele Heinz, Tochter des ehemaligen DT-Intendanten Wolfgang Henz, in dessen Inszenierungen die Keller so manchen Erfolg feierte. Eine Legende spielt eine Legende, an einem Haus, an dem beide zu Hause waren. Auch wenn es nur die „kleine“ Bühne der Kammerspiele ist: Mit schwerem roten Vorhang und nachgebauten Seitenlogen wird der geist des großen Saals beschworen, auch er nur noch eine Erinnerung.

Um Erinnerungen geht es, Erinnerungen, die Keller zunächst vorträgt, später liest. Und bei denen sich so manches Mal Darstellerin und Figur ganz nahe zu kommen scheinen. Wenn halb scherzhaft von den modernen Schauspielern die Rede ist, die nicht mehr sprechen können, wenn gesagt wird: „Immer eine Rolle, Immer spielte ich etwas. Aber wer war ich?“, da könnte auch die Keller sprechen. Und doch bleibt da die Distanz, vermischen sich Rolle und Darstellerin nie, zumindest nicht, so lange sie spricht.

Stärker sind daher die Momente, in denen Inge Keller das Textbuch sinken lässt, mit wachen und doch weit in eine unsichtbare Ferne blickenden Augen nach etwas zu suchen scheint, das ebenso vergangen, verloren vielleicht ist, wie jene, die sie spielt. Es sind Blicke nur, ein Zucken in den Mundwinkeln, eine knappe Bewegung der Augenbraue, die das charmante Geplauder durchbrechen, das Christoph Hein da geschrieben hat. Und natürlich diese Stimme: fest, hart, glasklar und doch nie ganz ohne Wärme. Das ist nicht die Stimme eines Geistes, sie ist im Hier und Jetzt präsent und zwingt zum Zuhören.Meine Zeit, sagt sie, möge vorbei sein, aber ich bin es nicht. Da werden Tilla und Inge, Figur und Darstellerin eins, erzählen eine größere, gemeinsame Geschichte, Erinnerungen, die sie teilen, weil sie größer sind als das Individuum.

Und doch, es sind Momente nur, kurze Brüche, die man allzu leicht verpassen kann. Ansonsten leidet der Abend unter dem schwachen, Anekdote an Anekdote reihenden, alles Gebrochene, Rätselhaft, Nicht-Erklärte in dieser beileibe nicht linearen Biografie bestenfalls streifenden, sich viel zu oft in Allgemeinplätze zurückziehenden Text. Und unter der Regie, die sich darauf beschränkt, Ine Keller in eine möglichst gutes Licht zu rücken. Bernd Stempel, selbst seit über 20 Jahren am DT, bleibt da nur Statist. Es hilft auch nicht, dass hier nur ein halbes Stück aufgeführt wird: zu Tilla gehört eigentlich noch Jannings, eine Art Gegenstück, die Geschichte eines anderen Jahrhundertschauspielers, der sich jedoch von dem Regime vereinnahmen ließ, vor dem die Durieux floh. Tilla  streift diese Phase nur en passant, viel wichtiger erscheint die stürmische Beziehung mit Ehemann Nummer 2, Paul Cassirer.

Das ist alles angenehm zu verfolgen, durchaus unterhaltsam, nicht selten amüsant und doch ebenso harmlos dahinplätschernd wie altbacken. Am Ende ergreift den Abend dann eben doch die Nostalgie, die Keller/Durieux zu Beginn noch verspottete, gefällt sich der Abend in biederer Beschaulichkeit und macht die Freude darüber, Inge Keller noch einmal auf einer Bühne erleben zu dürfen, der Sehnsucht Platz nach Iphigenie und all den Rollen, für die man sie zu Recht erinnert. Es ist ein vollkommen unambitionierter Abend, dem es reicht, Inge Keller auf ein Sofa zu setzen und vorlesen zu lassen. Wenig ist das nicht und doch hätte man sich ein wenig mehr Schärfe gewünscht, ein genaueres Hinschauen auf mögliche Kratzer in der Oberfläche, mehr Tiefgang statt einer Abfolge netter Anekdoten. Eigentlich all das, was die Schauspielerin Inge Keller immer ausgemacht hat.

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