Endstation Gesangsverein

Ödön von Horváth: Glaube Liebe Hoffnung, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin (Regie: Christoph Marthaler)

Von Sascha Krieger

Zunächst ist da nichts. Niemand. Nirgends. Langsam kommen da einzelne Töne, ganz zaghaft, kaum hörbar, eher noch Teil der Stille als sie durchbrechend. Musikfragmente, die aus dem leeren Orchestergraben kommen. Statt von Musikern sind die Stühle belegt von Verstärkern, Lautsprechern, einem Megaphon. Irgendwann kommt ein Mann im Blaumann auf die Bühne getrottet, stellt eine Leiter an das Vordach, auf dem die vier Buchstaben „INST“. Langsam steigt er die Leiter hinauf, kehr wieder um, steigt wieder auf. Nach und nach bringt er einige weitere Buchstaben an, bevor er durch die zerberstenden Sprossen stürzt. Am Ende steht da „ANAT.M…..INST“, ein Fragment auch dies und es wird Fragment bleiben. Stille, Stillstand, Fragmentierung – es sind die Säulen, auf die Christoph Marthaler seine postapokalyptische Horváth-Vision baut, mit der er der Volksbühne in der zweiten Spielzeitpremiere auch den zweiten Höhepunkt beschert. Hier sind alle Messen schon gesungen, sind Glaube, Liebe, Hoffnung längst schon kaum noch Erinnerung und werden doch nie ganz aufgegeben. Es ist einer von Marthalers düstereren Abenden geworden und hat doch soviel Licht und am Ende vielleicht sogar so etwas wie Hoffnung.

Glaube Liebe Hoffnung Christoph Marthaler
Foto: Walter Mair

Einen „kleinen Totentanz“ hat Horváth sein Stück genannt und doch ist hier nichts klein. Es ist die Geschichte der naiv-hoffnungsvollen Kämpferin Elisabeth, die sich mitten in der Wirtschaftskrise eine Existenz aufbauen will und letztlich von der unbarmherzigen Maschinerie von Gesellschaft und Bürokratie in den Suizid getrieben, die letzte eigenverantwortliche Handlung, die ihr geblieben ist. Marthaler erzählt sie als unsichere Erinnerung, als Traum in vergilbenden Farben. Anna Viebrocks Bühne ist eine Mischung aus verfallender Fünfzigerjahre-Behördenarchitektur und Wartesaal, bei dem nicht klar ist, worauf hier gewartet wird. Es ist eine Art Zwischenraum, eine Vorhölle à la Sartre, aber auch ein Beckettsches Nirgendwo, in dem nichts mehr passiert passieren wird, passieren kann. Der ideale Ort also um vorzuführen, wie Gesellschaft und ihre Vertrteter systematisch einen Menschen zerstören und es dann doch nicht so recht vermögen. Zerstört sind am Ende vor allem sie selbst, leere, lächerlich-bemitleidenswerte Hüllen, die nur noch nicht einmal mehr heiße Luft verbergen. Bei aller zuweilen karikaturesken Zeichnung: Marthaler lässt die anderen Figuren mit einer gehörigen Portion Sympathie zeichnen.

Auch die Täter sind Gefangene der selbstgeschaffenen Machtmaschinerie, Opfer ihrer selbst, der eigenen Machtphantasien und Karriereträume, armselige Kreaturen, deren Erfolg die völlige Isolation und Einsamkeit bedeutet. Ueli Jäggi gibt den Schupo Alfons als gealterten Schatten seines Selbstbildes, ein traurig Liebessuchender, der nicht die Stärke besitzt, seine Liebe festzuhalten. Wenn er, im Moment des Verstoßens seiner Geliebten, sagt: „Zuerst kommt die Pflicht, dann kommt eine Ewigkeit gar nichts. Radikal nichts.“, zitiert er nur sein längst vollstrecktes Todesurteil. Eine schwache, bemitleidenswerte Gestalt wie der Präparator, den Jean-Pierre Cornu als hilflos Suchenden gibt, der seine Sehnsucht hinter einer bröckelnden Fassade der Selbstachtung verbirgt. Oder die große Irm Hermann, deren Amtsgerichträtin nichts mehr zu erwarten hat und daraus eine gewisse Würde entwickelt, ohne jedoch sich wirklich auf die Seite der Schutzbedürftigen zu schlagen. Sie verbleibt in selbstgerechter Neutralität, ein Büttel mit gutem Gewissen.

Ihnen gegenüber steht die zweifache Elisabeth. Olivia Grigollo spielt die naiv-hoffnungsvollere Variante, Sasha Rau die skeptisch-resigniertere. Immer wieder erzwinegen sie die Wiederholung von Szenen, erst mit der einen, dann der anderen. Die bei Horváth so brutal und unentrinnbar lineare Handlung wird so zur Endlosschleife, der Stillstand spür- und fassbar, dieser Stillstand, das schwarze Loch, das jegliches Mitgefühl einsaugt, und gegen das diese Elisabeths anrennen, zunehmend hoffnungslos, doch bis zum Schluss selbstbestimmt. Sie haben nur sich selbst, auch dies wird anschaulich durch die Dopplung, in der Elisabeth sich an sich selbst klammern darf.

Dass Marthaler die Elisabeth-Geschichte durchaus universal interpretiert, zeigt, dass er am Ende fünf Frauenleichen auf der Bühne versammelt, nicht nur zwei. Wie der Retter (Thomas Wodianke) in zunehmender Erschöpfung eine nach der anderen hereinträgt, ist ein Beispiel des grotesken Humors, der bei Marthaler immer auch eine bittere Ebene hat. Es wird viel gelacht an diesem abend, doch das Lächerliche geschieht stehts am Abgrund, kippt in Erschrecken oder entwickelt sich daraus, so wie auch die Musik, ob vom Band oder durch Clems Sienknecht am Piano erzeugt, zwischen Kakophonie und zerbrechlicher Schönheit wechselt.

Denn Groteske und Entsetzen sind nicht die einzigen Pole dieser Inszenierung. Durchbrochen wird sie immer wieder von Momenten bewegender Sanftheit. Der stumme, zeitlupenhafte Tanz, den Elisabeth und Alfons aufführen, die Augenblicke der Innigkeit zwischen der Amtsgerichtsrätin und ihrem Gatten, Bachs „Wer hat dich so geschlagen“, gesungen von den beiden Elisabeths und überleitend in eine anrührend stilleVersion von „Ich hatt‘ einen Kameraden“ des Gesellschaftschors – es sind Augenblicke, in denen so etwas wie Wärme, Nähe, Gemeinsamkeit möglich scheinen und die doch ganz schnell wieder umschlagen, wie im angesprochenen Chor, der auf die Zeile „Kann dir die Hand nicht geben“ in ein schneidend schmerzhaften Solo Wodiankas umschlägt. Nein, Hände werden hier nicht gereicht und doch sind diese flüchtigen Augenblicke wahr. Der Abend endet mit einem anderen Horváth-Text: Das Licht über dem erstarrten Leichenfeld geht aus und fährt zum einsamen Sienknecht, der über Arkadien erzählt, einen utopischen Sehnsuchtsort, an dem das Miteinander der Menschen möglich wird. „Wir haben keinen Statt mehr“, sagt er, „wir bilden nur mehr einen Gesangsverein.“ Lächerlich, ohne Frage, aber vielleicht doch ein Hoffnungsschimmer. Und liegt in diesem „vielleicht“ nicht alles?

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