The Orcs Are Alright

Theatertreffen 2024 – Nach „Der Herr der Ringe“™ von J.R.R. Tolkien: Riesenhaft in Mittelerde™, Theater HORA / Das Helmi Puppentheater / Schauspielhaus Zürich (Regie: Nicolas Stemann, Stephan Stock, Florian Loycke, Der Cora Frost)

Von Sascha Krieger

Eigentlich sind sie ja ganz nett, die Orks. Ein bisschen grummelig vielleicht, aber die haben ein Awareness-Team, halten Diavorträge, führen Diskussionen und erweisen sich als ziemlich umgänglich, gar nicht wie die tumbe Ausgeburt des Bösen, die wir as den Büchern und Filmen der „Herr der Ringe“-Saga kennen. Es ist ganz angenehm und vergnüglich, dieses Mordor, das in der „begehbaren Pause“ diesen Abends seine Tore öffnet. Es ist ein kleiner, llecihtfüßiger Seitenhieb auf die problematischen Aspekte von J.R.R. Tolkiens Opus Magnum, dem vermutlich bekanntesten Werk der Fantasy-Literatur. Die Darstellung der Orks und Uruk-Hai, jener Helfer des bösen Herrschers Sauron, wurde schon lange als rassistisch durchsetzt kritisiert. Der binäre Gegensatz von Hell und Dunkel, die Vernichtungs-, Folter- und Versklavungsgelüste der „Guten“ gegenüber den „Bösen“, die Mechaniken der Entmenschlichungen – dieser Abend nimmt sie auf und verkehrt ihre Objekte spielerisch und augenzwinkernd in das Gegenteil ihrer Wahrnehmung. Wie er auch die Abwesenheit weiblicher Figuren im Heldentrupp der „Gefährten“ thematisiert mit einer beißenden Replik der Elbin Arwen gegenüber ihrem Helikoptervater.

Bild: Philip Frowein

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Ästhetik des Misstrauens

Theatertreffen 2024 – Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, Salzburger Festspiele (Regie: Ulrich Rasche)

Von Sascha Krieger

Leicht gebeugt, die Arme angewinkelt, die Körper angespannt, wie im Anschlag, starren sie sich an, nähern sich, umkreisen, umzingeln einander, pirschen sich von hinten an, belauern den anderen. Ulrich Rasches Inszenierung von Lessings Aufklärungsklassiker ist erfüllt von einer Ästhetik des Misstrauens. Wachsamkeit erfüllt die Figuren, Vorsicht, Boxer in ständiger Schutzstellung, Raubtiere unmittelbar vor dem Angriff. Voran geht es nicht auf dieser Rasche-typischen Bühnenkonstruktion, dieser rotierenden Riesenscheibe, deren zwei äußere Ringe sich zuweilen auch gegenläufig bewegen können. Stillstand trotz ständiger Bewegung ist eine Kernkomponente von Rasches Theater – hier konterkariert sie von Beginn den Fortschrittsglauben der Aufklärung, für die Lessings Stück – zu recht oder nicht – steht wie kein zweites. Dieses Werk über religiöse Toleranz, über die Gleichheit der Menschen – hier ist es ein aussichtsloser Kampf gegen Hass und Ausgrenzung.

Bild: SF / Monika Rittershaus

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Ruinen der Realität

Yael Ronen & Shlomi Shaban: Bucket List, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Yael Ronen) – eingeladen zum Theatertreffen 2024

Von Sascha Krieger

Es gibt Tage, nach denen ist nichts mehr, wie es war. Der 7. Oktober 2023, an dem die Terroristen der Hamas das größte antijüdische Pogrom seit der Shoah verübten, war ein solcher Tag. Bucket List, die neue Arbeit der israelischen Autorin und Regisseurin Yael Ronen und ihres Landsmanns, des Komponisten Shlomi Shaban, ist ein Ergebnis und Ausbruch des Bruchs, der an und mit diesem Tag entstand. Von der ursprünglichen Idee einer Befassung mit der Frage, was vor dem eigenen Tod alles noch an Leben zu erledigen sei – daher der Titel – ist so gut wie nichts übrig geblieben. Stattdessen befasst sich dieser Abend ganz mit dem Bruch selbst, dem Auseinanderbrechen von Individuum und Realität, der Hilf- und Ratlosigkeit ob des vollständigen Verlusts jeglicher Gewissheiten. Und er spricht nicht nur darüber, er macht diese zu seinem Kern, gibt ihnen Ausdruck und eine Bühne.

Bild: Ivan Kravtsov

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Auf der Mauer des Schweigens

Falk Richter: The Silence, Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin (Regie: Falk Richter) – eingeladen zum Theatertreffen 2024

Von Sascha Krieger

Nein, besonders hoch ist sie nicht. Bequem darauf sitzen kann man, stehen gar, sie mühelos überwinden. Nur um auf die nächste zu treffen, ähnlich harmlos, wenig bedrohlich, kaum wahrnehmbar. Kein einschüchterndes Monstrum, diese Mauer des Schweigens, die Katrin Hoffmann auf die intime halbrunde Globe-Bühne der Schaubühne gestellt hat. Aber sie ist überall, gibt es kein Entrinnen vor ihren Fragmenten und den Steinen, die nur darauf warten, zur nächsten Mauer zu werden in diesem Erinnerungsraum aus ebenfalls halbrunder Bildfläche – wie ein aufgeklappter Mond – schmutzig violettem Plüschglas, einer halb kahl im imaginierten Wind stehenden Birke, ein Raum durchsetzt vom Schweigen, statisch, sich nicht entfalten können, weil er immer wieder anstolpern muss gegen die freundlich unerbittlichen Hindernisse.

Bild: Gianmarco Bresadola

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„Was für Rituale?“

Theatertreffen 2023 – William Shakespeare: Hamlet, Anhaltisches Theater Dessau (Regie: Philipp Preuss)

Von Sascha Krieger

„Die Zeit ist aus den Fugen“: Es ist der erste Satz von Philipp Preuss‘ Hamlet-Adaption und auch so etwas wie das Motto des Abends. Denn dass etwas mit der Zeit nicht stimmt, bemerkt das Publikum bereits beim Einlass. Da sitzen zwei in schwarz-gold glitzernden Oberteilen bekleidete Männer an einem weißgedeckten Tisch, und wiederholen roboterhaft das Wort „oder“ – ein Schlüsselwort aus dem vermutlich berühmtesten Monolog der Theatergeschichte, während im Hintergrund das Gelage des frischvermählten Königs über den Eisernen Vorhang flimmert und dabei immer wieder in die Zeitlupe kippt (Video: Konny Keller). Hier biegt sich das Raum-Zeit-Kontinuum schon zu Beginn zu einem sich selbst in den narrativen Schwanz Beißen. Geht der Vorhang hoch, wird aus dem Tischchen plötzlich eine ewig lange, durch Spiegelwand noch verdoppelte Tafel (Bühne: Ramallah Sara Aubrecht). Wo sich Sprache, Charaktere – die beiden Darstellenden an der Rampe geben gemeinsam, getrennt den Hamlet – und Zeit doppeln, tut dies auch der Raum. Das „Oder“ ist ein „Und“, ein „Sowohl als auch“, ein „Egal“. Wo der Raum endet, beginnt er aufs Neue, so wie es auch die Zeit tut.

Bild: Claudia Heysel

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„Sie stören mich irgendwie“

Theatertreffen 2023 – Maxim Gorki: Kinder der Sonne, Schauspielhaus Bochum (Regie: Mateja Koležnik)*

Von Sascha Krieger

„Sie stören mich irgendwie“: Es sind einige der ersten Worte Pawel Protassows, Chemiker und Haustyrann, an diesem Abend. Und diese vage Genervtheit, dieses unbestimmbare Angewidertsein vom Rest der Menschheit, diese Priorisierung des eigenen Egos und instinktiven Wohlbefindens setzen den Ton dieser Inszenierung von Gorkis klassischem Porträt einer Gesellschaft kurz vor dem Untergang. Die Regisseurin Mateja Koležnik, Raimund Orfeo Voigt (Bühne) und Ana Savic-Gecan (Kostüm) in einem vergangenen Nirgendwo ansiedeln. Die detailreiche Zimmerflucht gemacht an Peter Steins legendäre Tschechow- und Gorki-Abende, ein bisschen auch an Alvis Hermanis‘ erzkonservative Realismusorgien, aber sie durchweht eine Unbestimmtheit, das Ambiente eher aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, die Kleidung ebenso, wenn auch mit Anwandlungen der Gorki-Zeit. Viel passiert hinter verschlossenen Türen oder im verborgenen Obergeschoss und auch wenn die Figuren auf der eigentlichen Bühne sind, scheinen sie bemührt sich so gut es geht zu verbergen. Alles an diesem Abend spricht von der Abwesenheit des und der Anwesenden, vom Verschwinden der Gegenwart. Was da und sichtbar ist, was geschieht, ist berteits vergangen. Schrödingers Theater.

Bild: Matthias Horn

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Die Banalität des Tratsches

Theatertreffen 2023 – Maria Lazar: Die Eingeborenen von Maria Blut, Burgtheater, Wien (Regie: Lucia Bihler)

Von Sascha Krieger

Nein, blutig wird es an diesem Abend nicht, zumindest nicht vordergründig, tödlich schon. Maria Lazars erst kürzlich wiederentdeckter Roman erzählt von einem Österreich am an der Schwelle zum Abgleiten in den Faschismus, von der Macht des Gerüchts und dem mörderischen Sog der Ausgrenzung. In kurzen Szenen malt er das Bild einer von Verunsicherung und Fatalismus zerfressenen Gesellschaft, die von Heuchelei und Egoismus nur noch oberflächlich zusammengehalten wird. Eine Gesellschaft rivalisierender Gottesbilder.  Für Lucia Bihlers Bühnenadaption hat Jessica Rockstroh eine riesige Marienfigur geschaffen, die im Zentrum der Bühne thront. Der Mantel blutrot, der Umhang himmlisch blau, gehalten von zwei Engeln, der Heiligenschein farblich changierend. Später wird er ins Rote kippen, der Umhang zu Boden fallen, aus der Versöhnung Verheißenden wird die Vorbotin eines anderen „Heils“, bevor sie ganz entsorgt und auf ihrem Podest von einer neuen, menschlichen, weltlichen, tödlicheren Madonna ersetz wird. Eine neue Autorität wird übernehmen, unerbittlicher noch, menschengemacht und damit unmenschlicher als die nicht mehr gebrauchte.

Bild: Susanne Hassler-Smith

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„Er küsst sie“

Theatertreffen 2023 – William Shakespeare: Ein Sommernachtstraum, Theater Basel (Regie: Antú Romero Nunes)

Von Sascha Krieger

„Er küsst sie“. Immer und immer wieder schwäbelt Aenne Schwarz den Satz über die Bühne, in ihrer Rolle als Vroni unfähig, die Regieanweisung als solche zu verstehen und umzusetzen. Es ist eine Schlüsselszene dieses Abends, in der sich der Großteil des Publikums bis an die Schmerzgrenze in Lachen verausgabt und ein kleinerer sich zum vorzeitigen Gehen entschließt. Wie diese Szene eskaliert, die Probe in purem Chaos versinkt und ganz nebenbei Egoverletzungen aufscheinen, bevor das Theater das Durcheinander auflöst und in Fantasie und Spiel verwandelt ist atemberaubend, ist größtmögliche Albernheit, banalster Slapstick und höchstes Theaterglück. Eine durchaus treffende Beschreibung für diesen fast dreistündigen pausenlosen Abend, dessen Einladung zum Theatertreffen zeigt, dass die letzten krisenhaften Jahren vielleicht auch etwas verkrampften Ernsthaftigkeitszwang aus dem Theaterbetrieb gespült haben könnten. Womöglich muss nicht alles mehr einen – „tieferen“ oder „höheren, je nach Blickwinkel – Sinn haben, vielleicht reicht es zuweilen, einfach nur das Spiel zu feiern, das Theater als Selbstzweck, als Unterhaltungs- und Fantasiemaschiene, als Moment gemeinsamen Lachens.

Bild: Ingo Höhn

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Emanzipatorische Wut

Theatertreffen 2023 – Nora. Ein Thriller von Sivan Ben Yishai, Henrik Ibsen, Gerhild Steinbuch und Ivna Žic. Münchner Kammerspiele, München (Regie: Felicitas Brucker)

Von Sascha Krieger

Dies ist, so erklärt uns Sivan Ben Yishai in ihrem Prolog, in erster Linie „die Geschichte eines Hauses“. Da wir uns aber im Theater befinden und nicht im Reich der Architekturkritik, steht hinter diesem mehrfach wiederholten Satz einiges mehr. Das Haus der Familie Helmer, es ist eben strukturelles Symbol von Hierarchien, Herrschaftsstrukturen, patriarchalen und in der Lesart dieses Abends auch sozialen. Sechsmal, so lernen wir in der fiktiven Leseprobe dieser Einleitung, taucht Torvald Helmer, Bankdirektor in spe, auf der Personenliste des Stücks auf, die erste Zeile gehört ihm ohnehin, egal wie lautstark seine Gattin Nora diese für sich einfordert. Ihre Rolle, ihre Bedeutung hängt an der ihres Mannes, sie ist, was der Gatte entscheidet, was sie zu sein hat. So weit, so Ibsen. Was Regisseurin Felicitas Brucker und ihre Gastautor*innen tun, ist dieses Feld der Abhängigkeiten und des Gefälles zu erweitern. Im Prolog geschieht das bezüglich der Nebenrollen. Haus- und kindermädchen sowie Bote erhalten Namen, aber es wird auch ganz klar: Eine eigene Geschichte haben sie nicht. Sie sind Teil einer fremden, männlichen, sozial sich höherstellenden. Vincent Redetzkis trocken resignativ-stolzer Umgang mit den Forderungen der anderen nach seinem Verschwinden ist ein erster, komischer wie bewegender Höhepunkt dieses Abends.

Bild: Armin Smailovic

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Das Taxi kommt nicht

Theatertreffen 2022 – Toshiki Okada: Doughnuts, Thalia Theater, Hamburg (Regie: Toshiki Okada)

Von Sascha Krieger

Nein, das Taxi wird nicht kommen. In Toshiki Okadas Doughnuts hat es den abwesenden Heilsbringer Godot ersetzt, wie anstelle von Tramps nun fünf Business-Typen warten auf das nie Eintreffende. Hier verdorrt nicht einmal mehr ein Baum, hier ist die Außenwelt im kalten komfort einer Hotellobby im 21. oder 22. Stock kaum mehr denkbar. Ein Ort im Nirgendwo, nicht auf dem Boden der Tatsachen, das Außen verschwindend wie als Referenz an eine andere Beckettsche Endzeitvision, Fin de partie. Ein Nebel, so hören wir, immer dichter werdend und letztlich alles verschluckend, hat die Illusion der Realität aufgesogen. Doch wo der Blick nach draußen zumindest versucht werden könnte, starren die Spielenden auf Dominic Hubers Bühne auf einen weißen Vorhang, bleibt der Blick hier drinnen, im Wartebereich, wagt sich selbst er nicht weg von hier, ganz zu schweigen die Wartenden.

Doughnuts
Bild: Fabian Hammerl

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